“Ach, das ist nett, daß du fragst, mein Kind. Mir geht’s gar nicht so gut…” “Hmmm. Das tut mir aber leid. Magst du dich zu mir setzen und erzählen? Was ist denn los, Amerika?”
“Los? Es ist viel zu viel los… Kennst du diesen Mitt Romney? Der hat sich bei mir als Präsident beworben. Habe ich ihm gesagt, er soll die Menschen überzeugen. Und was macht er? Fährt heim nach Michigan, erzählt bei jeder Rede, daß die Bäume nur dort die richtige Höhe haben und hat dann in Detroit nichts besseres zu tun, als den Leuten von seinen Autos zu erzählen. “A couple of cadillacs” hat er gesagt. In Detroit, wo die Leute arm sind und Arbeitslosenquote himmelhoch, weil die Automobilbranche so gut wie tot ist. Kannst du dir das vorstellen? Und dann versucht er sich bei mir einzuschleimen und singt mir ein Ständchen: http://bit.ly/wAw8Gg. Wenn der unter meinem Fenster gestanden hätte, ich hätte den Nachttopf über ihm ausgeleert!
Oder nimm diese Tea Party Gestalten. Schon der Name ist eine freche Geschichtsklitterung und ihr Programm ist die Unantastbarkeit des Second Amendment (Waffen tragen zu dürfen) und ansonsten “NO”. Von denen habe ich noch nicht ein einziges Mal etwas Konstruktives gehört. Wenn überhaupt einer revolutionsähnliches für sich in Anspruch nehmen kann, dann die Occupy-Bewegung. Und die räumen meine Bürgermeister wegen Parkverschmutzung und “Overnight-Camping”.
Und dann der andere Bewerber, dieser Rick Santorum, dieser fundamentalistische Gotteskrieger! Fordert ernsthaft, daß Frauen wieder Heim und Herd hüten und ihren eigennützigen Selbstverwirklichungsbestrebungen über Berufstätigkeit entsagen sollen. Überall wieder Doris Days und andere desperate housewives, das kann er mir doch nicht antun! Und dann seine krude Sexualmoral. Keine Verhütungsmittel. Kein Sex vor der Ehe. Und innerhalb einer Ehe Sex nur zur Zeugung von Kindern, nicht zum Spaß. So verkniffen wie der aussieht, hält er sich wahrscheinlich sogar an seine eigenen Moralvorstellungen und hatte in seinem Leben acht mal intercourse. Gleichgeschlechtliche Beziehungen hält er sowieso für Teufelswerk, du mußt nur mal anschauen, wie ihm bei dem Thema der Geifer aus dem Maul spritzt. Ganz ehrlich, was unterscheidet ihn denn von den Mullahs über die er so dermaßen bösartig herzieht? Nix! Überhaupt Nix!
Weißt du, was ich nicht verstehe? Es gibt kaum ein privateres Thema als Sexualität und trotzdem wird ein Monsterwahlkampfthema daraus gemacht. Acht meiner Staaten lassen die heiraten, die heiraten wollen, so lange beide Partner alt genug sind und die Entscheidung klaren Kopfes getroffen haben und weitere Staaten bereiten gerade entsprechende Gesetze vor. In anderen Bundesstaaten ist “gay marriage” verboten und wird es bleiben. Wenn jemand wirklich nötig heiraten muß, dann zieht er halt um. Viel mehr Sorgen macht mir das Thema Schwangerschaftsabbruch. Vor fast 40 Jahren hat eine Frau das Recht auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch erstritten. (Die Klage lautete, daß das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen gegen das Verfassungsrecht auf Privatsphäre verstoße. Ironie am Rande: bis es der Fall “Roe v. Wade” durch die Instanzen geschafft hatte, war das Kind längst auf der Welt.) Und jetzt bekriegen sich “pro-life” (Abtreibungsgegner) und “pro-choice”. Das mit dem Krieg meine ich wörtlich, pro-life sind sie nur, wenn’s um ungeborenes Leben und gegen die Autonomie von Frauen geht. Auf Ärzte und Ärztinnen, die legale Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und deren Praxispersonal erstreckt sich der Anspruch nicht. Da wird geschossen und mit Brandsätzen geworfen. Und frage gar nicht erst, welchen Spießrutenläufen und Hexenjagden die Frauen ausgesetzt sind. Ganz schlimm! http://bit.ly/w5vpcY. Dabei trifft niemand eine solche Entscheidung leichtfertig und die Frauen nehmen geltendes Recht und qualifizierte Hilfe in Anspruch. Wie lebensfern ist dieser Typ eigentlich? Es kann doch keiner ernsthaft wieder die Zeit der schmuddeligen Hinterzimmer und rostigen Kleiderbügel zurückhaben wollen.
Obwohl, manchmal scheint es so. Hast du die Geschichte mit “Planned Parenthood” mitbekommen?
[Planned Parenthood ist die amerikanische Version von Pro Famila. Angeboten werden Krebsvorsorge, Sozialhilfe, HIV-Tests und Sexualberatung. Ca. die Hälfte des Budgets machen staatliche Zuschüsse aus, mit der Auflage, davon keine Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. 2010 wurden drei Prozent des Etats von Planned Parenthood für Schwangerschaftsabbrüche aufgewandt. Was die Republikaner nicht davon abhielt, ab September 2011 über einen Unterausschuss des Kongresses “Ermittlungen” wegen des “Verdachts” auf Missbrauch von Steuergeldern durchzuführen. Worauf prompt einer der größten privaten Spender, die Susan G. Komen-Krebsstiftung (Markenzeichen: die rosa Krebsschleife) ihren Zuschuß strich, der vorwiegend zur Finanzierung von Mammographien geplant war.]
Diese Sauerei mit den Spendengeldern von der Komen-Stiftung? Da lobe ich mir meine Vierte Gewalt, die haben gleich Unrat gewittert und herausgefunden, daß die treibende Kraft hinter der Spendenstreichung die neue Komen-Vizepräsidentin Karen Handel war. Ein Blick auf ihren Lebenslauf hätte genügt: vor Komen war sie republikanische Ex-Innenministerin in Georgia und erklärte Abtreibungsgegnerin. Nun mußte sie zurücktreten, Planned Parenthood hat das Komen-Geld und darüber hinaus noch ein gerütteltes Maß an Solidaritätsspenden bekommen. Und eine so gute Einrichtung wie die Komen-Stiftung hat ihr Ansehen komplett verspielt, weil sie sich in eine politische Auseinandersetzung hat hineinziehen lassen und nicht vernünftig genug war, beide Seiten zu hören. Ist das nicht richtig schlimm?
Weißt du noch, wie ich mich gefreut habe, als sie mir den Obama gewählt haben? “Change” hat er versprochen, das hätte mir so gut getan. Schau ihn dir an: er hat seine Versprechen nicht gehalten und die Menschen sind enttäuscht. Ich auch. Er will’s nochmal versuchen, aber ich weiß noch nicht, ob ich so viel Geduld mit ihm habe. Wenigstens kann er schöner singen.
Verstehst du jetzt, mein Kind, warum es mir gar nicht gut geht? Meine Menschen driften in zwei extreme Richtungen auseinander, sie reden nicht mehr miteinander und suchen schon gar nicht nach Kompromissen. Von wegen! Ich muß noch froh sein, wenn sie einander nur mit Dreck bewerfen und nicht gleich über den Haufen schießen. Mich zerreißt das irgendwann noch. Und dann? Was wird dann?”
Ganz erschöpft und gebeutelt sitzt Amerika da auf dem Sofa und sieht viel älter aus als seine 235½ Jahre. Was soll ich bloß sagen? Ich probiere es mit einem Cocktail aus Trost, Notlüge und Ermunterung:
“Poor thing! Buck up! It can’t get worse… Good night, America. Get some rest. And good luck!”