Vom geflogen werden

War Spanien auf der Hinreise noch hochriskant und es mußten Zettel mit Barcode ausgefüllt werden, auf denen die reisende Person bestätigte, dass sie weder krank war, noch ist, noch sich so fühlt, ist das Land auf dem Rückweg zu weniger gefährlich heruntergestuft und es sind am Schalter nur noch Ticket, Personalausweis und ein G-Nachweis vorzulegen. Easy peasy. Jetzt nur noch flott durch die Security. Schuhe aus, in die beim übernächsten Schritt wg. one-size-fits-nobody schon wieder verlorenen Plastikbeutelüberschuhe geschlüpft und…

Halt!

Ein Herr will wissen, ob der Rucksack da mir gehört und zeigt angeekelt auf das rote Corpus delicti, das gerade harmlos in seiner grauen Plastikwanne zwischen uns anrollt. Ja, gebe ich zu, das ist meiner. Ob ich den wohl mal öffnen könnte. Klar kann ich. Und dann soll ich die hmhmhm rausnehmen. Die was? Schon etwas lauter, weil das ja immer hilft, wenn blöde Ausländer die Landessprache nicht verstehen: Ja, die HMHMHM. RAUSNEHMEN! Das unterstützt er gestisch, indem er mehrmals die Faust zur Schulter führt und anschließend abrupt nach unten bewegt. Hmmm, denke ich. Sieht aus wie Schläge. Was, um Himmels Willen, habe ich in meinem Rucksack, mit dem ich wen prügeln könnte? Die Nunchucks, der Baseballschläger und die Marmelade sind im aufs Gramm genau gewogenen Koffer, die kann er nicht meinen. Ah, danieldüsentriebt es mir, die Hartwürste vielleicht? Und bevor er jetzt noch mehr Gesichtsfarbe zulegt und noch lauter ¡HMHMHM! durch den ganzen Flughafen schreit, präsentiere ich die beiden Salamis (Salamen?), die Karin für die Spanien-Care-Pakete für Mutter und Bruder mitgegeben hatte.

¡SI!, nickt der ganze Mann. Die waren gemeint.

Zur Demonstration der Gefährlichkeit geräucherter Fleischprodukte wiederholt er die Schlagbewegungen mit einer der Würste und gibt mir zu verstehen, dass diese Killerteile auf keinen Fall an Bord können und im Lande zu verbleiben habe. Bitte, dann ist das eben so. Behaltet die Dinger. (Und macht euch darauf gefasst, die Logik dahinter Karin zu erklären.) Wobei ich bereit bin zu unterstellen, dass die Brotzeit im Wachmannpausenraum heute um liebevoll ausgewählte Mitbringsel erweitert wird.

Während ich auf den Aufruf zum Boarding warte, kontempliere ich zwei Dinge: erstens, die weltweiten Schlagzeilen, die ich hervorgerufen hätte, wenn ich, in jeder Hand eine Hartwurst, das Cockpit gestürmt und den Piloten mit vorgehaltener Salami zu einer Kursänderung gezwungen hätte und zweitens, dass die in Sevilla definitiv “Asterix in Korsika” nicht kennen. In diesem Rucksack waren nämlich ebenfalls gute eineinhalb Kilo Käse.

Andalusische Schnipselchen

# Wahrscheinlich um mir den Abschied leichter zu machen, werden von den zuständigen Wettermachern seit Tagen die Regenmengen gesteigert, die heute auf uns niederprasseln sollen. Von 4, dann 6, dann geradezu wahnsinnigen 7mm war die Rede. Wir hatten schon erwogen, eine Sandsackburg ums Haus zu bauen, konnten uns aber nicht auf den Stil einigen (Römisch? Berlin mit Graffiti?). Heute Morgen haben die Nachbarhähne wie üblich viel zu früh einen strahlenden Sonnenaufgang begrüßt, kein Wölkchen trübt den Himmel, kein Lüftchen regt sich, die Grillen wurden wie immer rechtzeitig eingeschaltet und bei den Wettermachern war kollektives Schwanzeinziehen angesagt. Sie prognostizieren nun gegen 18:00 Uhr die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass ein paar Tropfen Feuchtigkeit von oben auf den staubigen Boden fallen könnten. Kann aber auch sein, dass nicht. Damit kann ich leben.

# Gestern Abend wollten wir in meinem hiesigen Lieblingsrestaurant essen gehen, Señora Miriam macht einfach aus allem und dann die besten croquetas. Aber, wie wir vom Miriam-Gatten erfahren, der uns grade zwei große Gläser Tinto de Verano auf den Tisch donnert, doch nicht dienstags. Dienstags ist Putztag im Hause Miriam. Hmmm. Macht aber nada, sagt er, hier, und donnert die Speisekarten zweier Restaurants oben an der Plaza zwischen die Weinhumpen, dort könnten wir was bestellen und hierher liefern lassen, vale? Hmmm. Wir erwägen die Option, entscheiden aber dann, dass wir, wenn wir Plazarestaurantessen essen wollen, das auch direkt an der Plaza tun können.
Es mag am hastig heruntergestürzten alkoholhaltigen Getränk gelegen haben, dass wir Señor Miriam und seine Altherrenrunde mit der Mitteilung “Nein, nix bestellen. Vamos a la Playa!” leicht verwirrt und mit einer guten Story über blöde Touristinnen (“ja haben die denn nicht gemerkt, dass Algodonales im Gebirge liegt, diese Hühner”) zurückgelassen haben.

# Als ich hier ankam, hat sich die Nacht langsam und mit einem spektakulären Farbenspiel in allen Tönen Rot und Gelb und Violett wie ein schwarzes Sammettuch über die Landschaft gelegt. Jetzt fällt sie. Plumps. Und dunkel. Kann ich auch gleich abreisen. Pfffhhh.

Gelesen: Margaret Atwood – “The Blind Assassin”

So, die Ferien nähern sich dem Ende, die nächsten 600 Seiten sind verschlungen, und ich könnte noch eine Weile (mindestens zwei dicke mitgebrachte Bücher lang) so weitermachen. Kann ich aber nicht. Heute ist mein letzter Urlaubstag und morgen reise ich ab. Godvernommededom!

Nach den doch etwas betulichen Effingers hatte ich auf den ersten Seiten die Befürchtung, ich hätte zu einem weiteren Gesellschaftsroman aus der vorherigen Jahrhundertwende gegriffen. Wie konnte ich Ms. Atwood solchermaßen unterschätzen? Sie verflicht und verwebt mehrere Lagen von Geschichten unterschiedlichster Natur (Zeitungsartikel, Tagebuch, Familienlügen und -skandale, Pulp Fiction, Melodrama, Literaturtheorie, Klassiker, Klowandsprüche, Kleinstadttratsch, Rache & Abrechnung, alles und mehr) zu einem narrativen Teppich. Immer, wenn sie einen Erzählstrang verläßt, bin ich ihr fast gram, dass ich nicht sofort erfahre, wie es weitergeht. Dann aber lese ich mich im nächsten fest und finde mich in der gleichen Situation – sie ist schon eine Magierin. Und sie sieht tief in die Seelen der Menschen, die sie sich ausdenkt und übersetzt die Resultate in eine messerscharfe klare Sprache, gespickt mit bösartigem Humor. Wobei sie es ihrer Leserschaft nie leicht macht: ohne Selberdenken ist man bei Atwood verratzt, denn sie hat eine Höllenfreude daran, ihr Publikum in die Irre zu führen, falsche Schlüsse ziehen zu lassen, überraschende, wenn auch nicht unlogische Wendungen nicht hervorzuahnen. Hach!

Bei Atwood ist es immer so: Lesen zieht lesen nach. Hätte ich jetzt noch länger und viel mehr Zeit, dann würde ich mich mit ausführlichem Quellenstudium befassen und anschließend das Buch noch einmal gründlich und analytisch beackern. Unter besonderer Berücksichtigung der literaturwissenschaftlichen Aspekte. Und der feministischen. Und der historischen. Und der humanistischen. Und. Und. Und. Und anschließend würde ich den “Blind Assassin” mit mehr Wissen gerne noch einmal nur so zum Genuß lesen.

Wertes Nobelkommittee: Ihr seid spät dran. Es ist an der allerhöchsten Zeit für den Literaturnobelpreis, solange diese Frau noch am Leben ist. Bis dahin alle: Lesen! Lesen! Lesen! Lesen!

Aus dem Vokabelheft

  1. Der Mann im Leben meiner Gastgeberin ist aus England, das heißt, hier im Haus wird, egal ob mit Hund, Katz, Mann oder untereinander, Englisch gesprochen.
  2. Im Garten steht eine Unzahl von Granatäpfelbäumen. Vollbehangen, sie versprechen eine großartige Ernte. Weil Granatäpfel, wie jedes Obst, fast alle gleichzeitig reif sind, sitzt immer mindestens einer von uns gerade über ein Schüssel gebeugt und piddelt Kerne. Granatapfel heißt auf Englisch pomegranate, s.o. Die Gastgeberin neigte dazu, die Reihenfolge zu vertauschen, also wurde daraus granatepome. Wie es so ist in Haushalten, schleicht sich der Diminutiv ein. Eine der häufigsten Fragen lautet also: “Are you doing the grannies today?” (Was übersetzt und ohne den kernigen Kontext einen leicht obszönen Beiklang hat.)
  3. Ich habe dem Sprachchaos noch die deutsche Übersetzung hinzugefügt. Hinfort, so habe ich verfügt, ist zur Vermeidung von Mißverständnissen von Granatenpommes zu sprechen.

No Toast today

Vor die Wahl gestellt: wollen hier weiter drei Menschen an ihren Laptops herumklimpern (davon zwei ernsthaft und für Geld arbeitend und eine nur so herumbloggend) oder soll es Toastbrot geben, sind wir zu Überschrift gebenden Entscheidung gelangt…

Es ist nämlich, fast unfaßbar aber wahr, es ist bewölkt.

Setenil de las Bodegas

… will nicht Sentinel genannt werden, obwohl mir das viel leichter von der Zunge ginge, sondern ist vielmehr eines jener wunderschönen weißen Dörfer hier in der Region. An zwei Flüssen (derzeit lumpige entengrützige Rinnsale) längs und nicht nur steil, sondern direkt in die Felsen gebaut, mit ein paar verbleibenden Höhlenwohnungen, viel touristischer Gastronomie und im wesentlichen zu verkaufen. Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass an mindestens jedem dritten Haus ein “Se Vende”-Schild zu lesen stand.

Meine Gastgeber haben mich gestern auf einen Ausflug durch die andalusische Bergregion mitgenommen – sehr schöne Bilder, die ich alle nicht fotografiert habe. Ein Rappe und ein Schimmel hoch oben auf einem leuchtend gelb-schwarzen Hügel. Ein riesiges edles Schmiedeeisentor mit großen steinernen Halterungen rechts und links und irgendwo weiter hinten in der Landschaft etwas Verfallenes. Sonst nichts. Kein Zaun, keine Mauer. Nur das einsame Wachtor. Drei Monsterstiere auf einer Weide, dazwischen ein schattensuchendes Schäfchen. Eine Herde gescheckter Ziegen, deren Geruch uns noch eine ganze Zeit begleitet. Spitzstrohige kahle Felder mit viereckigen Heuballen. (Exkurs: kann ein Würfel Ballen heißen?) Kahles ödes verbranntes Land. So dermaßen schön. Ich kann mich kaum sattsehen.

Es wird mir fehlen.

Es wechseln die Zeiten…

Vorgestern… vorgestern war hier noch Hochsommer. Gestern, sagen zuverlässige lokale, wenn auch zugereiste Quellen, ist es Herbst geworden. Die Beweise sind untrüglich:

Vorgestern…

  • lag die Wassertemperatur im Pool zuverlässig knapp über der 30°-Marke. Seit gestern ist sie massiv (um eineinhalb Grad) gesunken, sinkt weiter, und es kostet schon wieder leichte Überwindung, sich im Ganzen zu Wasser zu lassen.
  • trug man tags wie abends irgendein leichtes Fähnchen und schon das war eigentlich zu viel Textil. Seit gestern nimmt man für das aushäusige Dinner besser ein Jäckchen mit. Gut, es ist das dünnste verfügbare Baumwollhoodie. Aber Jäckchen ist Jäckchen. Mensch!
  • war der bestirnte Abendhimmel noch zusätzlich sternbeschnuppt und ein Zeichen dafür, dass auch am nächsten Tag wieder mit großer Hitze zu rechnen sei. Seit gestern müssen die Liegestuhlauflagen abends wieder ins Haus und dürfen erst am anderen Tag spätvormittags wieder an die Luft, weil sie sonst klamm und stockfleckig werden.
  • gabs zum Frühstück zu Frühstückzeiten auf Wunsch auch Toast. Seit gestern ist geröstetes Brot ein Luxus, der allenfalls zum Mittagessen gereicht werden kann, wenn die Sonne so hoch steht, dass die Sonnenkollektoren auch wirklich genug Brotverbrennenergie hergeben können.
  • war die Bettdecke eine hübsche, aber unnötige Zierde. Seit gestern wird nachts wieder zudeckt, was irgend bedeckbar ist. Seit gestern kriegt man nämlich sonst Zug und Rücken.
  • gab es nichts schöneres als den Grad-aus-dem-Bett-erfrischenden-ersten-Schwimm-des-Tages. Seit gestern muss erst ein Loch ins Eis gehackt werden. Nix mehr Quick-Dip-before-Breakfast. Nightswimming steht gar nicht mehr zur Diskussion.
  • stand die Sonne noch so hoch, dass die ganze Terasse morgens wunderbar tief im Schatten lag und zwischen die einzelnen Pool-Duty- jederzeit Leseeinheiten eingeschoben werden konnten. Seit gestern ist der ganze Bereich vor dem Haus frühs so hell und sonnenbestrahlt, dass einem die Innere Vampirin strikt davon abrät, das abgedunkelte Haus zu verlassen.
  • gab es nichts Undenkbareres, als eine Wettervorhersage außer es-bleibt-heiß-heiß-heiß. Seit gestern wird für Mittwoch Regen angesagt. Bis zu 4mm. Vier. Millimeter. Mehr als in den letzten drei Monaten zusammen.

Es ist Andalusien wie immer im Turbotempo gelungen, aus mir eine hitzebedürftige Langschläferin zu machen, die jede Kaltwindbö als persönlichen Affront empfindet. Hätten die jetzt mit ihrem effing Herbst nicht noch warten können? Ich fahre doch eh am Donnerstag schon wieder heim…

Algodonales

… ist einfach ein reizendes Städtchen. Es ist ein bißchen lästig wie alle Ansiedlungen hier am Hang gelegen und Menschen wie mir, die nicht im Sternzeichen Bergziege geboren sind, geht die Kletterei auf die Nerven, dafür haben aber alle Locals vom Kleinkind an sehr stramme Waden und das ist doch auch was. Wir hatten heute nur eine kleine Liste abzuarbeiten und waren nach einem Besuch im China-Laden – halt, da muss ich ausholen. Ganz Spanien, und zwar wahrhaftig ganz Spanien, ohne jede Ausnahme, hat eine hohe China-Laden-Dichte. Ob das nun Teil der Neuen Seidenstraße ist oder Geldwasch- oder sonstige Tarngeschäfte für Drogenhandel oder ganz was anderes wird noch untersucht. In diesen Läden gibt es alles. Alles. Gartenmöbel, Küchenbedarf, Spielzeug (wer Kinder hasst, wird dort sehr gerne einkaufen), Elektronik, Kleidung für klein und groß und jung und alt, Partykruschtzeug, Teppiche, Olivenkernschüsselchen, Badezimmerausstattungen, alles, alles, alles, was sich aus Plastik herstellen läßt, Schwerter, Pflugscharen, Siebe, Becher, Flaschen, Schüsseln in allen Größen und bösartigen Farben, Einmachgläser, Teeservice, Glühbirnen, mehr Batterien, als es batteriebetriebenes Gerät geben kann, Putzmittel, Lebensmittel, denen ich die ersten zwei Silben absprechen möchte und so weiter und viel mehr. Alles halt.

Wie gesagt, nach dem Besuch im China-Laden, in dem Karin eine 21-Watt-Glühbirne und ich einen Schaumlöffel (“Espumadera”, falls wer fragt) erstanden haben, kletterten wir weiter Treppen hinauf auf die Hauptstraße, genau die, an deren einem Ende Plaza und Kirche liegen und am anderen die Cooperativa, und kauften dies und das sowie viel Weißbrot, damit ich heute mit der neuen Espumadera die Knödel auch schön aus dem Topf fischen kann.

Dann noch auf einen Aquarius in mein Lieblingspalettenrestaurant, das inzwischen in ordentliche Gartenmöbel investiert hat und anschließend zurück auf Karins Berg, damit wir nicht etwa die Siesta verpassen.

Das andalusische Gefühl ist zurück: die Zeit schleicht in der Hitze ganz träge dahin, trotzdem ist es immer schon viel viel später, als man gerade noch für möglich hält. Hach!

Fuego

Komisch… irgendwer in der Nachbarschaft scheint zu grillen, es riecht auf einmal nach Rauch in den staubtrockenen Olivenhügeln rings und rum. Offenes Feuer ist hier zwar in den Sommermonaten streng verboten, aber gegen ein bißchen kontrolliertes Grillen kann ja wohl keiner was sagen. Man hört das Knistern der Flammen auch mehr, als man bei der leichten Brise den Rauch riecht, wird schon nicht so schlimm sein. Oder doch? Je dunkler es wird, desto mehr sieht man den Feuerschein drüben im Westen, knickt und knackt es lauter und irgendwann trüben die Rauchschwaden den Sternenhimmel. Doch gefährlich? Man weiß es nicht. Was tun? Man weiß es auch nicht.

Da! Es erklingen Sirenen. Gutes Zeichen, oder? Ein bißchen La-Lü-La-La, dann wieder Ruhe. Nochmal. Und nochmal. Läßt das nun Rückschlüsse auf die Anzahl der Feuerwehrautos zu? Ist das überhaupt die Feuerwehr? Oder mischt die Guardia wieder bloß Autofahrer auf, wie sie das gerne freitagabends tut? Man weiß es nicht.

Gegen 2:00 Uhr früh scheint der Flammenschein zurückzugehen. Und wir dann doch mal ins Bett, vielleicht ist es doch nicht so gefährlich. Sicherheitshalber aber vor dem Einschlafen alle ganz wichtigen Sachen in den Rucksack gepackt, besser ist besser.

Am nächsten Morgen erfahren wir: ein paar dumme Jungs haben unten am Fluß im Nationalpark ein Feuerchen gemacht und das Schilf brennt nach diesem langen heißen Sommer wie Zunder.

Nochmal gutgegangen, vielleicht sollten wir aber doch für den hiesigen St. Florian eine Kerze anzünden, schaden kanns auf keinen Fall.

Gelesen: Gabriele Tergit – “Effingers”

So, das erste 900-Seiten-Buch dieser Ferien wäre gelesen. Mit großem Genuß. Kann der Kritik nur zustimmen: dieser Epochenroman über eine jüdische Familie hätte im Kanon der deutschen Literatur einen Platz neben den Buddenbrooks verdient, mit dem ganz großen und wesentlichen Unterschied, dass Tergit ihre Figuren und deren Lebenswelten zutiefst kennt und liebt. (Im Gegensatz zu Thomas Mann, der niemanden abkann, aber schön drüber schreibt.)

Gabriele Tergit ist ein Pseudonym für Elise Hirschmann, die vor der vorletzten Jahrhundertwende in eine reiche jüdische Berliner Familie geboren wird und aufwächst als Tochter aus gutem Hause mit den Traditionen und den Codizes einer “guten Familie”, inklusive der fürchterlichen Doppelmoral, wenn es um den Anstand der Frauen geht. Sie hat das Glück, in der Nachkriegszeit des Krieges aufzuwachsen, der damals noch “Weltkrieg” (ohne Nummer) hieß und trotz ihres Geschlechts eine vernünftige Ausbildung und eine herausfordernde Stellung als Gerichtsreporterin zu bekommen. Darüber hinaus engagiert sie sich in der Sozialfürsorge und legt mit den Grundstein dafür, was wir heute Sozialstaat nennen.

Über all dies schreibt sie. Mit Sachverstand und Sympathie. Über Kunst und Dinnereinladungen, Architektur und angemessene Aussteuern. Über Frauen, die in ihre Ehen “gehandelt” werden, über Männer, die nach einem strengen Ethos Geschäfte machen, bauen und aufbauen. Und alle anderen, die sich nicht in diese Muster pressen lassen, scheitern, wieder aufstehen, scheitern und liegenbleiben. Sie begleitet sie durch die Gründerzeit, den fürchterlichen Wilhelmismus, die kulturellen Zirkel des gehobenen Bürgertums, den Hurra-Patriotismus und die Grabenkriege des ersten Weltkriegs, den Versailler Frieden und die Weimarer Republik, die politische Kluft, sie sich zwischen Rechts und Links stetig vertieft und die Justiz, die auf dem rechten Auge immer noch stärker verblindet, den dekadenten Tanz auf dem Vulkan und die zunehmende Verelendung der Massen. Dem Wahlsieg der Nationalsozialisten und ihrem Regime räumt sie gerade mal die letzten 50 Seiten ein.

Tergit setzt als wesentliches Stilmittel Wiederholung ein. Das erinnert an orale Erzähltraditionen und gibt diesem Buch einen ganz besonderen Zauber, man liest das gerne und mit Freude. “Effingers” beginnt, wie es endet: mit einem Brief Paul Effingers an seine Familie. Im ersten berichtet er hoffnungsvoll von seiner ersten Stellung und seinen Plänen für eine Zukunft als Fabrikant, den letzten schreibt er am Vorabend des Abtransports nach Auschwitz.

Im Epilog spaziert eine Überlebende, wie Gabriele Tergit selbst, 1948 durch das zerstörte Berlin und sucht nach den Spuren früheren Lebens. Es gibt sie nicht mehr.

Die Erstveröffentlichung der “Effingers” erschien 1951, auf Wunsch des Verlages stark gekürzt, weil sich die Leute so kurz nach dem Krieg nicht wirklich für jüdische Schicksale interessierten. Jetzt, fast 70 Jahre später, ist es allerhöchste Zeit, dieser untergegangenen Epoche nachzuspüren.

Lesen! Lesen! Lesen!