Gelesen: Gabriele Tergit – “Effingers”

So, das erste 900-Seiten-Buch dieser Ferien wäre gelesen. Mit großem Genuß. Kann der Kritik nur zustimmen: dieser Epochenroman über eine jüdische Familie hätte im Kanon der deutschen Literatur einen Platz neben den Buddenbrooks verdient, mit dem ganz großen und wesentlichen Unterschied, dass Tergit ihre Figuren und deren Lebenswelten zutiefst kennt und liebt. (Im Gegensatz zu Thomas Mann, der niemanden abkann, aber schön drüber schreibt.)

Gabriele Tergit ist ein Pseudonym für Elise Hirschmann, die vor der vorletzten Jahrhundertwende in eine reiche jüdische Berliner Familie geboren wird und aufwächst als Tochter aus gutem Hause mit den Traditionen und den Codizes einer “guten Familie”, inklusive der fürchterlichen Doppelmoral, wenn es um den Anstand der Frauen geht. Sie hat das Glück, in der Nachkriegszeit des Krieges aufzuwachsen, der damals noch “Weltkrieg” (ohne Nummer) hieß und trotz ihres Geschlechts eine vernünftige Ausbildung und eine herausfordernde Stellung als Gerichtsreporterin zu bekommen. Darüber hinaus engagiert sie sich in der Sozialfürsorge und legt mit den Grundstein dafür, was wir heute Sozialstaat nennen.

Über all dies schreibt sie. Mit Sachverstand und Sympathie. Über Kunst und Dinnereinladungen, Architektur und angemessene Aussteuern. Über Frauen, die in ihre Ehen “gehandelt” werden, über Männer, die nach einem strengen Ethos Geschäfte machen, bauen und aufbauen. Und alle anderen, die sich nicht in diese Muster pressen lassen, scheitern, wieder aufstehen, scheitern und liegenbleiben. Sie begleitet sie durch die Gründerzeit, den fürchterlichen Wilhelmismus, die kulturellen Zirkel des gehobenen Bürgertums, den Hurra-Patriotismus und die Grabenkriege des ersten Weltkriegs, den Versailler Frieden und die Weimarer Republik, die politische Kluft, sie sich zwischen Rechts und Links stetig vertieft und die Justiz, die auf dem rechten Auge immer noch stärker verblindet, den dekadenten Tanz auf dem Vulkan und die zunehmende Verelendung der Massen. Dem Wahlsieg der Nationalsozialisten und ihrem Regime räumt sie gerade mal die letzten 50 Seiten ein.

Tergit setzt als wesentliches Stilmittel Wiederholung ein. Das erinnert an orale Erzähltraditionen und gibt diesem Buch einen ganz besonderen Zauber, man liest das gerne und mit Freude. “Effingers” beginnt, wie es endet: mit einem Brief Paul Effingers an seine Familie. Im ersten berichtet er hoffnungsvoll von seiner ersten Stellung und seinen Plänen für eine Zukunft als Fabrikant, den letzten schreibt er am Vorabend des Abtransports nach Auschwitz.

Im Epilog spaziert eine Überlebende, wie Gabriele Tergit selbst, 1948 durch das zerstörte Berlin und sucht nach den Spuren früheren Lebens. Es gibt sie nicht mehr.

Die Erstveröffentlichung der “Effingers” erschien 1951, auf Wunsch des Verlages stark gekürzt, weil sich die Leute so kurz nach dem Krieg nicht wirklich für jüdische Schicksale interessierten. Jetzt, fast 70 Jahre später, ist es allerhöchste Zeit, dieser untergegangenen Epoche nachzuspüren.

Lesen! Lesen! Lesen!

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