Mit dem Umzug der Firma nach Palo Alto haben wir den Postbezirk gewechselt. Ich kann allerdings empirisch beweisen: Post ist Post ist Post. Unabhängig davon, ob im Stadtgebiet von San Francisco oder in Santa Clara County.
Wer was will, muss dafür Schlange stehen. Der Palo Altanische Schlangeneinweiser fragt die Schlangestehenden ab: Was wollen sie? Wie oft? Wieviel? Warum? Wohin? Auch Briefmarken? Die Antworten trägt er auf einer Art Multiple Choice Zettel ein, den der Wartende bekommt und der Fachkraft am einzigen besetzten Schalter vorlegt. Die liest dem bei ihr eingetroffenen Kunden vor was auf dem Zettel steht und läßt sich bestätigen, dass alles seine Richtigkeit hat. Dann kann der postalische Vorgang beginnen. Der Schlangenbetreuer hat auch schon eine Schulung für den Postautomaten bekommen und kann immer wieder einzelne Schlangensteher verführen, doch “THE MACHINE” (so ehrfürchtig, wie er von ihr spricht, kann man das Wort nur in Großbuchstaben schreiben) auszuprobieren. Jeder, der diesem Lockruf einmal gefolgt ist, kann für immer und alle Zeiten widerstehen. Die Novizen nicht. Und lernen: Unser Schlangenmann kann nur Briefmarken für einen Domestic Letter im Standardformat. Alle weiteren Trainings hatte er noch nicht. Also kommen die Irregeführten in die Warteschlange zurück und zwar gemäß Fairnessprinzip an den Platz, den sie ursprünglich innehatten. Etwas frustrierter, aber immerhin, nach einem kleinen Unterhaltungsintermezzo.
Weitere wichtige Regel bei der amerikanischen Post: das Formular, das man gerade braucht, ist immer aus. Das meldet man dem Schlangeneinweiser, der ist auch Bote und berichtet dies der Schalterfachkraft. Die bringt ihre aktuelle Kundenbetreuung zu Ende und verschwindet in den Katakomben unter der Post, wo in Stahlkammern mit Zeitschaltkombinationsschlössern der Formularnachschub aufbewahrt wird. Alle fragen sich, ob die mutige Frau von dieser waghalsigen Expedition je ohne Schaden an Leib und Seele zurückkehren wird und atmen erleichtert auf, wenn sie wieder im Türrahmen zu sehen ist, angeschlagen, blass, aber lebend! Hurra! Die langen bangen Warteminuten haben sich gelohnt, sie hat ca. zehn Formulare mitgebracht. Die bekommt der Schlängler, eines reicht er an den Anforderer aus und verstaut die anderen sorgsam im dafür vorgesehen Fach. Ungestüm rafft der nächste Ansteher alle bis auf eines an sich – er sieht sich für die nächste Notlage gewappnet. (Weil er auch bestimmt dran denkt, das Formular beim nächsten Mal mitzubringen.)
Es kann weitergehen, traditionsgemäß mit dem Satz “I can help the next customer”. Dies ist, auch eine feststehende Regel, immer ein Asiate, in der Regel Inder oder Chinese, der schwere Schätze an die Lieben daheim schicken will. Zu diesem Behufe hat er den traditionellen Familienkarton mit dem die Altvorderen vor Urzeiten in dieses Land eingereist sind vollgepackt. Der Karton hat auf seinen vielen Reisen viel mitgemacht, rauhe See und Salzwasser, United-Airlines-Frachtmitarbeiter und sieht entsprechend mitgenommen aus. Diese Monstrum wuchtet der Mann auf den Tresen der entsetzten Schalterfachkraft. Das ist traditionell eine winzige Asiatin mittleren Alters, die sich noch nicht mal für einen Boxkampf im Minifliegengewicht qualifizieren könnte. Der Karton bekommt dabei noch ein paar Risse mehr und wird von ihr (auch traditionell) als nicht versandfähig befunden. Das ist der wahre Clash of Cultures: fernöstlicher Traditionkarton vs. neuwestliche Versandverpackungsvorschrift. Es wird (ebenfalls gute alte Posttradition) ein bißchen hin- und herdiskutiert, die Schlange murrt, der Schlangenmann versucht Opfer für THE MACHINE zu rekrutieren, die Fachkraft rät zu Klebeband. Der Asiate hat keins. Die Fachkraft verleiht den Postklebebandabroller. Mann, Paket, Postklebebandabroller trollen sich zum (unbesetzten) Nebenschalter, Asiate beginnt zu “tapen”, “next in line” darf sein Postgeschäft abwickeln.
Wenn der Asiate mal klebt, dann klebt er. Bis die Klebebandrolle leer ist. Dann befindet er sein Werk für gut und reiht sich wieder in die Schlange ein. Wir erinnern uns, Fairnessprinzip, und deswegen kommt er – Traditionen sind wichtig – immer gerade vor mir dran. Wuchtet sein Trumm wieder auf den Tresen. Die Schalterfachkraft kriegt das Ding nicht vom Fleck, es muss aber auf die Waage. Der Asiate darf nicht, er ist schließlich kein Postler. Was nun? Danket Hermes für den Schlangenmann, der ist auch Paketheber, aber erst, wenn er dafür (Vorschrift ist Vorschrift) den Tragegurt angelegt hat. Der hat viele Haken, Riemen, Bänder, es dauert, bis sowas vorschriftsmäßig sitzt. Dann stemmt er. Auf die Waage. Nun wieder die Fachkraft: das Paket ist ein paar Unzen zu leicht, um unter die “Heavy Weight Discount” Regel zu fallen, mit der man als Versender $3 sparen kann. Wir sehen dem Mann beim Denken zu: was von dem, das er gerade am Leib trägt, könnte er entbehren, um drei Dollar zu sparen? Ihm fällt nichts ein, resignierend nickt er der Schalterkraft zu, die beiden werden handelseinig. Der Heber hat mitgedacht und den Gurt umgelassen (ich fürchte, der ist für den Verein überqualifiziert und wird seinen Job bald verlieren), er verbringt das ordnungsgemäß frankierte Paket Richtung Hinterräume, Schalterdame und Asiate blicken ihm nach, bis er außer Sichtweite ist.
Jetzt komm’ ich. Lege meine drei Zettel vor. Wieso drei? Ich habe drei Einschreiben, und auf des Schlänglers Liste kann man “Certified Letter” nur ankreuzen, nicht aber eine Anzahl eintragen. Hat er elegant gelöst. Zettel 1: “Ah, Sie haben da ein Einschreiben?” “Richtig. Und noch zwei weitere, davon eines mit Rückschein. Letzeres geht auf eine separate Rechnung.” Dazu soll ich erst mal die entsprechenden Formulare ausfüllen. “Hab’ ich schon im Büro gemacht, mit allen Stempeln und Angaben, die Sie brauchen.” Die kleine Frau ist verblüfft. Dann arbeitet sie Zettel für Zettel und Einschreiben für Einschreiben ab. Jedes Mal komplett, mit Bezahlen und Quittung ausdrucken, zwei so, eins anders, das geht gar nicht.
Es ist vollbracht: Drei Briefe sind auf dem Weg. Ich bin fertig! An der langen Warteschlange vorbei gehe ich Richtung Ausgang. Neiderfüllte Blicke folgen mir. Manche meiner Leidensgenossen haben angefangen, ihr Testament zu machen. Andere telefonieren ein letztes Mal mit ihren “Significant Others”. Bei den Ärmsten der Armen ist der Akku leer.
Wie jedes Mal frage ich mich: Sind das vazierende Laienspielgruppen, die nach einer festen Text- und Rollenvorgabe leerstehende Gebäude besetzen und darin Mitmachtheater in der Tradition von Antonin Artauds “Theater der Grausamkeit” spielen? Oder ist das ein ernst gemeinter Dienstleistungsbetrieb? Letzteres ist im übrigen nicht auszuschließen, denn an der Tür draußen hängt ein Schild, das darauf hinweist, dass (geladene) Schusswaffen im Gebäude untersagt seien. Das könnte aber auch ein besonders perfider Regieeinfall sein. Ich kann das Rätsel nicht lösen, der Vorhang zu und alle Fragen offen.
* “Going Postal” bedeutet im übrigen im Deutschen “Amok laufen, ausrasten, durchdrehen”. Ganz überraschend ist das nicht.