Gestern Abend im Resi: “Gegen den Hass” – Lesung von und mit Carolin Emcke und Ensemble

Wegen der großen Nachfrage hatte das Residenztheater die ausverkaufte Veranstaltung dankenswerterweise kostenfrei live gestreamt.

Und? Ja. Hmmm. In einem unaufgeregten Setting (Tische, Stühle, Menschen mit Texten) wurden wohlgesetzte Worte von gut geschulten Stimmen vorgetragen. Gegen Hass und Häme, für gleichberechtigte Teilhabe aller an der demokratischen Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiösen oder politischen Anschauungen, Gesundheitszustand, Behinderung, Alter. (Wenn ich noch was vergessen haben sollte, liegt es an mir und nicht an Frau Emcke.)

Emcke ist unbestreitbar sehr klug und kann ihre Gedanken exzellent formulieren. Es mag an mir und meiner Neigung zum Zynismus liegen, dass ich den Eindruck hatte, dass dergleichen edle, gute und hehre Veranstaltungen wenig hilfreich sind im Angesicht blökender und brüllender Mißachter von Gesetz und Umgangsformen. Inzwischen habe ich Zweifel an der so oft berufenen Wehrhaftigkeit der Demokratie und Angst, dass die Erwartung, sie sei schon stark genug, naiv ist.

Wie sehr lautes Pfeifen im sehr dunklen Wald.

Ad Astra

Für einen winzigen Augenblick ging mir durch den Kopf, dass “Space Cowboys” doch schon lange abgedreht ist und die Schauspieler damals besser aussahen.
Dann war wieder Realität.

Busuu i̇le türkçe öğreni̇yorum

Danke an Frau S. aus D., die mir einen kostenfreien Premiumtestzugang zu Busuu geschenkt hat. Nun lerne ich also jeden Tag zwischen einer halben und einer ganzen Stunde Türkisch. Ich könnte schon behaupten, dass ich/du/er/sie/wir/ihr/sie Anwältin, Lehrerin, Verkäuferin, Studentin, Arbeiterin ist/sind, groß oder klein, glücklich oder traurig, jung oder alt, braun- oder blauäugig, arbeitslos und gutaussehend (kein Antonym bis jetzt). Außerdem andere nach ihrem Namen fragen, sie begrüßen und verabschieden.

Für gerade mal am Montag angefangen finde ich das nicht übel, wenn auch sehr anstrengend und fordernd. Ich werde weiter berichten.

Hoşçakalın, allesamt.

Wiedergelesen: Elizabeth Acevedo – “The Poet X”

Ich bin gespannt, wie lange es noch dauern wird, bis ich mir endlich eingestehe, dass das mit der Neuorganisation der Biblikothek der Casa Flock so nicht funktioniert. “So” heißt, dass ich wieder ein Buch in die Hand nehme, mit dem Ziel, es ordentlich einzusortieren, nach Genre oder Autor oder so und dann dem Zauber des Wiederlesens verfalle und wusch, ist die Nacht um.

Macht nix. Ich habe ja Zeit und bin jetzt einfach mal nachsichtig mit mir. Wer Zeit hat, lese dieses sehr starke Buch; ich habe meiner ersten Empfehlung nichts hinzuzufügen.

Rentenbescheid

Morgen vor vier Wochen war mein vorerst letzter Arbeitstag. Nun habe ich schon fast vier Wochen Urlaub inkl. Überstundenabbau hinter mir und nenne diese Phase probeweise schon einmal “Rente”.

Erstes Fazit: ich hätte das schon viel früher machen sollen. Viel früher.

Nie, nie, nie hätte ich erwartet, dass mir, die ich operativ bis zur letzten Minute in alle möglichen Themen involviert war, schon nach zwei, drei, vier Tagen nichts mehr fehlt. Außer den Menschen natürlich. Und dem Klatsch. Aber die Arbeit? Die Verantwortung? Die Weltrettung? Aber so dermaßen kein Stück, ich bin selbst ganz verblüfft.

Stattdessen genieße ich es wie verrückt, wieder, wahrscheinlich das erste Mal seit den großen Ferien meiner Schulzeit, bis zum Morgengrauen zu lesen (@PA – it did happen for the fifth time by now) und wenn das Buch zu Ende ist, in den Tag hinein zu schlafen. Zu essen, wenn ich Hunger habe und nicht, wenn Mittagspause ist oder eine Lücke zwischen zwei Telefonkonferenzen oder die Kollegin im Hunsrück auch gerade Zeit hat und wir während einer Abstimmung oder zur Vorbereitung eines nachfolgenden Termins schnell vor dem Rechner gemeinsam Nahrung zu uns nehmen (also jede vor Ort für sich) und dann reden, während die andere kaut. Überhaupt essen: ich habe Zeit, gute Gerichte zuzubereiten. Nicht mit Hinblick darauf, ob sie am nächsten oder übernächsten Tag in der Mikrowelle im Büro noch gut aufgewärmt werden können, sondern nur mit der Maßgabe, ob ich gerade jetzt Lust auf gerade das habe.

Meine Pinwand ist gespickt mit Eintrittskarten für Theater und Lesungen und Konzerte und Kabaretts und Veranstaltungen wie diese heute Abend: https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/gegen-den-hass?lm und ich habe Zeit dafür und muss mir keine Gedanken darüber machen, ob oder nicht ich morgen früh früh raus muss. Ich muss nicht. Das ist einer der schönsten Nebeneffekte der Nichtmehrberufstätigkeit, dieses Nicht. Nicht mehr Weckerklingeln. Nicht mehr fremdbestimmt. Meine eigenen Gedanken denken und nicht die Sorgen anderer Leute haben. Hach!

Wenn es mir jetzt noch gelingt, in diese Routine regelmäßigen Sport einzubauen, darf dieses sehr dolce vita noch lange so weitergehen.

“25 trips to take in 2025”

… schreibt mir meine amerikanische Bank und gleich die zweite Empfehlung ist:

Es sind auch zwei Rivieras (Rivieren?) dabei:

Die in Palästina scheint noch nicht final erschlossen.

Meine Fresse!

Was erlaube, Spon?

Spiegel Online hat einen Leserbrief gelöscht, der falsche Tatsachen verbreitet. Kann man machen. Soll man machen. Kann man auch mit einem Kommentar versehen, dass die Inhalte geprüft und für falsch befunden wurden. Alles okay.

Was ich allerdings aus dieser Richtigstellung gelernt habe, ist, dass es den Begriff “Depublizieren” gibt, s. a. https://de.wikipedia.org/wiki/Depublizieren. Die Negation einer Veröffentlichung.

Das schmerzt nicht nur die Linguistin in mir.

Gelesen: Kaliane Bradley – “The Ministry of Time”

Wiewohl sehr hochgejazzt, ist das Buch ein Erstling. Das merkt man. Wer es lesen will, gehe nun hin in Frieden und tue das. Wem meine Spoiler als Lektüreersatz reichen, lese weiter.

Die Ausgangsidee ist großartig. Was, wenn die britische Regierung ein Zeitportal er-/gefunden hätte (mit dem Eigentum anderer Leute nimmt man es als Kolonialmacht eh nie so ganz genau) und nun testweise Menschen aus der Vergangenheit in unsere Zeit brächte? Zum Beispiel eine Dame aus der Zeit der großen Pestepidemie in London, einen Leutnant aus der Schlacht von Naseby, eine Dame aus der französischen Revolution, die gleich nach ihrem Gatten guillotiniert wurde, einen Teilnehmer (Offizier, natürlich) an der tragisch gescheiterten Franklin-Expedition in die Arktis und einen Soldaten (Offizier, klar) aus einem Graben an der Somme? Alle sind in “ihrer” Zeit tot, bringen also das Raum-Zeitkontinuum nicht durcheinander, wenn sie in unserer Zeit am Leben sind, was, wie wir als Kenner wissen, das A&O bei Zeitreisen ist.

Soweit, so sehr schön. Damit die Zeitreisenden “Expats” nun lernen, im 21. Jahrhundert zurechtzukommen, gibt ihnen das titelgebende Zeitministerium sogenannte “Brücken” an die Seite, mit denen sie zusammen wohnen und leben und lernen sollen.

Die Ich-Erzählerin haben wir schon mit dem ersten Satz kennengelernt, das nächste buchbestimmende Thema gleich mit ihr. Sie ist nämlich die sehr weiß wirkende (merken, wird wichtig) bi-racial Tochter einer kambodschanischen Mutter und eines englischen Vaters, hat die Pol-Pot-Traumata der Vorgeneration geerbt (merken, wird auch wichtig), mehrere Interview-Runden im Ministerium bestanden und wird nun “Bridge” des Arktis-Expeditions-Teilnehmers Commander Graham Gore (“1847”).

Bradley milkt den Kulturschock des viktorianischen British-Empire-Offizier und Gentleman, der nun zum Undenkbaren gezwungen mit einer jungen unabhängigen unverheirateten Frau unter einem Dach zusammen wohnt, bis auf den letzten Tropfen aus. Dabei gelingen urkomische Szenen, manche geraten aber auch arg bedeutungsschwanger und unterschwellig wird schon “mehr” angedeutet. Ja, genau, “mehr”, wie in: sie werden irgendwann Sex haben. Aaaarrggghhh!

Nebenher entpuppt sich der junge Offizier aus dem 1. Weltkrieg (natürlich) als schwul, ist die Pestlondonerin eine pansexuelle Internet-Native mit exzentrischem Geschmack in Kleidung und Leben usw. usf., und es werden Kolonialismus, Sklavenhandel, Rassismus, Überwachungsstaat (implantierte Chips!), Kapitalismus, Spotify, Nikotinabusus, Rechtsruck, kochende Männer, der Untergang des Empire, etc. sowie ein bunter Strauß an Traumata verhandelt – die Keulen, mit denen hier auf die Leserschaft eingeprügelt wird, sind recht dick. Natürlich gibt es auch Schurken und es ist nicht alles eitel Sonnenschein im Ministerium, Maulwürfe, Verräter, Spione dreuen dem jungen Glück den Garaus machen zu wollen.

“Junges Glück”? Aber ja. Der Commander und seine junge Brücke haben einander gefunden und nach dem ersten Kuß geht alles ganz schnell. Zunächst unterweist sie den Viktorianer im Cunnilingus, alles schwer lustvoll, dann kommt es unter Hecheln, Keuchen und Stöhnen zum leidenschaftlichen ersten Mal. So leidenschaftlich, man denke, dass halbmondförmige Abdrücke von Fingernägeln auf der Haut noch Stunden danach davon zeugen. Jeder nachfolgende Geschlechtsverkehr (und es sind deren viele) endet in beiderseitigen multiplen Orgasmen. Es ist zum Fremdschämen und erinnert sehr an die furchtbaren Billigromänchen an der Supermarktkasse.

Dann muss die Geschichte nur noch zu Ende gebracht werden. Dabei kommen Waffen zum Einsatz, eklige Morde, Dritter-Mann-Verfolgungsjagden in der Kanalisation sowie Beziehungsdrama, eine große Enthüllung und ein zuckersüßer Alles-ist-doch-gut-Schluß und det Janze kann nu vom Blatt weg verfilmt werden. Die BBC hat bereits eine sechsteilige Miniserie in Auftrag gegeben.

Man kann das lesen und vergnüglich finden. Mir würde jedoch nichts fehlen, wenn ich die Zeit anders verbracht hätte.

Mein Exemplar ist zu haben.