Gelesen: Kaliane Bradley – “The Ministry of Time”

Wiewohl sehr hochgejazzt, ist das Buch ein Erstling. Das merkt man. Wer es lesen will, gehe nun hin in Frieden und tue das. Wem meine Spoiler als Lektüreersatz reichen, lese weiter.

Die Ausgangsidee ist großartig. Was, wenn die britische Regierung ein Zeitportal er-/gefunden hätte (mit dem Eigentum anderer Leute nimmt man es als Kolonialmacht eh nie so ganz genau) und nun testweise Menschen aus der Vergangenheit in unsere Zeit brächte? Zum Beispiel eine Dame aus der Zeit der großen Pestepidemie in London, einen Leutnant aus der Schlacht von Naseby, eine Dame aus der französischen Revolution, die gleich nach ihrem Gatten guillotiniert wurde, einen Teilnehmer (Offizier, natürlich) an der tragisch gescheiterten Franklin-Expedition in die Arktis und einen Soldaten (Offizier, klar) aus einem Graben an der Somme? Alle sind in “ihrer” Zeit tot, bringen also das Raum-Zeitkontinuum nicht durcheinander, wenn sie in unserer Zeit am Leben sind, was, wie wir als Kenner wissen, das A&O bei Zeitreisen ist.

Soweit, so sehr schön. Damit die Zeitreisenden “Expats” nun lernen, im 21. Jahrhundert zurechtzukommen, gibt ihnen das titelgebende Zeitministerium sogenannte “Brücken” an die Seite, mit denen sie zusammen wohnen und leben und lernen sollen.

Die Ich-Erzählerin haben wir schon mit dem ersten Satz kennengelernt, das nächste buchbestimmende Thema gleich mit ihr. Sie ist nämlich die sehr weiß wirkende (merken, wird wichtig) bi-racial Tochter einer kambodschanischen Mutter und eines englischen Vaters, hat die Pol-Pot-Traumata der Vorgeneration geerbt (merken, wird auch wichtig), mehrere Interview-Runden im Ministerium bestanden und wird nun “Bridge” des Arktis-Expeditions-Teilnehmers Commander Graham Gore (“1847”).

Bradley milkt den Kulturschock des viktorianischen British-Empire-Offizier und Gentleman, der nun zum Undenkbaren gezwungen mit einer jungen unabhängigen unverheirateten Frau unter einem Dach zusammen wohnt, bis auf den letzten Tropfen aus. Dabei gelingen urkomische Szenen, manche geraten aber auch arg bedeutungsschwanger und unterschwellig wird schon “mehr” angedeutet. Ja, genau, “mehr”, wie in: sie werden irgendwann Sex haben. Aaaarrggghhh!

Nebenher entpuppt sich der junge Offizier aus dem 1. Weltkrieg (natürlich) als schwul, ist die Pestlondonerin eine pansexuelle Internet-Native mit exzentrischem Geschmack in Kleidung und Leben usw. usf., und es werden Kolonialismus, Sklavenhandel, Rassismus, Überwachungsstaat (implantierte Chips!), Kapitalismus, Spotify, Nikotinabusus, Rechtsruck, kochende Männer, der Untergang des Empire, etc. sowie ein bunter Strauß an Traumata verhandelt – die Keulen, mit denen hier auf die Leserschaft eingeprügelt wird, sind recht dick. Natürlich gibt es auch Schurken und es ist nicht alles eitel Sonnenschein im Ministerium, Maulwürfe, Verräter, Spione dreuen dem jungen Glück den Garaus machen zu wollen.

“Junges Glück”? Aber ja. Der Commander und seine junge Brücke haben einander gefunden und nach dem ersten Kuß geht alles ganz schnell. Zunächst unterweist sie den Viktorianer im Cunnilingus, alles schwer lustvoll, dann kommt es unter Hecheln, Keuchen und Stöhnen zum leidenschaftlichen ersten Mal. So leidenschaftlich, man denke, dass halbmondförmige Abdrücke von Fingernägeln auf der Haut noch Stunden danach davon zeugen. Jeder nachfolgende Geschlechtsverkehr (und es sind deren viele) endet in beiderseitigen multiplen Orgasmen. Es ist zum Fremdschämen und erinnert sehr an die furchtbaren Billigromänchen an der Supermarktkasse.

Dann muss die Geschichte nur noch zu Ende gebracht werden. Dabei kommen Waffen zum Einsatz, eklige Morde, Dritter-Mann-Verfolgungsjagden in der Kanalisation sowie Beziehungsdrama, eine große Enthüllung und ein zuckersüßer Alles-ist-doch-gut-Schluß und det Janze kann nu vom Blatt weg verfilmt werden. Die BBC hat bereits eine sechsteilige Miniserie in Auftrag gegeben.

Man kann das lesen und vergnüglich finden. Mir würde jedoch nichts fehlen, wenn ich die Zeit anders verbracht hätte.

Mein Exemplar ist zu haben.

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