Gestern in den Kammerspielen – “Effingers”

Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie man diese 900 Seiten lange Saga einer jüdischen Familie in Deutschland, die ich in den Sommerferien mit großem Genuß gelesen habe und die ich seither nicht müde werde, sehr sehr zu empfehlen (s. https://flockblog.de/?p=45397), wie man also diese 100 Jahre jüngerer Geschichte für die Bühne aufbereiten kann.

Man kann.

Großes Kompliment an Viola Hasselberg und Jan Bosse für ihre Bühnenfassung des Stoffes und an letzteren noch einmal gleich doppelt für die gelungene Inszenierung. Eine große Ensembleleistung eines Dutzends Schauspieler*innen, davon manche in Mehrfachrollen. Kurzweilig, zuweilen sehr berührend, gelegentlich ausgesprochen fröhlich und manchmal tragisch. Immer stimmig. Dass ich über drei Stunden lang durch FFP2 atmend still gesessen bin, habe ich nur gemerkt, weil es auf einmal halt sehr spät war.

Wer Zeit findet, sehe sich das Stück an. Solange es noch geht.

Berufswahl – Teil 3

Wo sie sich denn in unserem Unternehmen sehe, will ich von der Kandidatin wissen. “Ja, so als Lückenfüller,” kommt wie aus der Pistole geschossen die Antwort. Auf meinen fragenden Blick hin präzisiert sie: sie wolle “die Leere, die im Unternehmen ist, füllen.”

Habe von weiteren Nachfragen abgesehen.

Berufswahl – Teil 2

Sie finde, sagt die junge Frau, Marketing sehr ansprechend. Nein, antwortet sie auf meinen Einwurf, nein, sie wisse nicht genau, was das sei. Aber das “ing” hinten klinge so süß.

Berufswahl – Teil 1

Die Lieblingsfächer der heutigen Bewerberin um eine Ausbildungsstelle sind: Sport, Musik, Mathe und Deutsch und ihre bisherige Schulkarriere gedenkt sie im nächsten Sommer so abzuschließen:

Nicht sicher, ob man noch mehr Fehler in dem einen Satz hätte unterbringen können. Mehr zum Vorstellungsgespräch in den nächsten Tagen…

Ganz neu im US-Fernsehen: “Mayor of Kingstown”

Nach bisher zwei Folgen weiß ich noch nicht genau, was ich davon halten soll: Die Serie spielt in einer kleinen Stadt in Michigan nach dem Sterben der alten Industrien, deren nunmehr einzige Einkommensquelle die sieben Mega-Gefängnisanlagen sind.

Man wird sofort mitten hinein geschmissen, keine lange Erklärung, keine behutsame Einführung, mitten rein in Gewalt, mehr Gewalt, ein ungerechtes Strafsystem, Korruption und viele Menschen, die trotzdem nur ihr eigenes kleines Leben so gut wie möglich leben wollen. Wir lernen die Familie McClusky kennen, die irgendwo dazwischen in ihren unterschiedlich Rollen (Bulle, Bürgermeister, Fixer (wie in “Reparierer”), Lehrerin) das System irgendwie am Laufen halten. Drogen, Gewalt, dicke Autos, Blut, Waffen, the most versatile word of the English language in Dauerschleife, Dealer, Cops, Gefangene, Wächter, Mörder und andere Kriminelle drin und draußen, Politiker dito. Wahnsinnig schnelle Schnitte, viel Krach.

Besetzt zum Finger abschlecken: Dianne Wiest als Knast-Lehrerin, bei der man sich wünscht, endlich wieder Geschichtsunterricht besuchen zu dürfen; Tobi Bamtefa als Ghetto-Drogen-Overlord; Kyle Chandler als der zwischen den Welten oszillierende Mayor; Taylor Handley als Mitglied der Police Force; Aidan Gillen als Syndikats-Kingpin, der vom Gefängnis aus alle Strippen zieht und – Tuschtrara – Jeremy Renner, als der mittlere der McClusky-Brüder, der eigentlich gerne gut wäre, doch die Verhältnisse, die sind nicht so.

In der zweiten Folge wird in Echtzeit eine Hinrichtung per Giftspritze gezeigt, mit allen dabei austretenden Körperflüssigkeiten in Nahaufnahme und einer Kamera, die der Mutter des Delinquenten und der Mutter des Opfers fast unter die Haut kriecht – viel intensiver geht es nicht.

Ich bin, wie gesagt, noch nicht sicher, was daraus wird. Aber solange Jeremy Renner wie um sein Leben spielt, werde ich mir noch ein paar Folgen ansehen.

Schon lange nicht mehr im Fernsehen: “The Town” (2012)

Diese Mini-Serie (3 Folgen à 50 Minuten) ist ein wahres Kleinod britischen Fernsehschaffens!

Kurz zum Inhalt: alles ist wie immer. Die Frau des Hauses bereitet das Haus zur Nacht vor, schließt die Haustür ab, kocht sich eine letzte Tasse Tee, löscht die Lichter, geht nach oben, entbietet ihrer Mutter und der Teenager-Tochter den Gruß zur Nacht und betritt das eheliche Schlafzimmer. Schnitt. Am nächsten Morgen sitzt die Tochter allein beim Frühstück und stürmt irgendwann das elterliche Schlafzimmer, weil Taxi Mama spät dran ist. Sie ist es, die die Eltern findet, steif und bleich in ihrem Bett, auf dem Nachttisch leere Schnapsflaschen und Tablettenpackungen.

Die finanzielle Situation der Familie war schon länger nicht mehr rosig, der Vater schon eine Weile arbeitslos. Selbstmordpakt. Ziemlich eindeutig. Oder? Oder nicht? Oder doch? Darum dreht sich alles in den nächsten 130 Minuten. Wahnsinnig spannend!

Buch und Regie sezieren Segen und Fluch der Kleinstadt, die Fehden, Geheimnisse, Macht und Ohnmacht, Verpflichtungen, Korruption, Verknüpfungen, alte Lieben, neue Leiden, neue Lieben, alte Leiden, Verstöße und Fehltritte, mit und ohne Sühne – es ist zum Niederknien gut! Die Besetzung liest sich wie das Who’s who britischen Fernsehschaffens und sie sind alle sehr sehr großartig. Ich hatte mir die DVD seinerzeit gekauft, weil Andrew Scott den Sohn der Familie spielt, lange schon in London und nun wegen des Tods der Eltern zurück in seiner Herkunftskleinstadt und unter dem moralischen Druck, entweder zu bleiben und sich hier wieder zurückeinzuleben oder seine Schwester und Großmutter dem jeweiligen generationsgerechten Versorgungs-“system” zu überantworten. Ich habe Scott in seiner Rolle als Moriarty in den Cumberbatch/Freeman-Sherlocks kennen- und sehr schätzen gelernt. In “The Town” übertrifft er sich selbst. Quadruple-Hach!

Ich weiß nicht, ob die Serie irgendwo gestreamt wird. Dann bediene man sich dort. Wer aber mag, kann sich bei mir die DVD ausleihen (das, liebe junge Menschen, ist ein physischer Datenträger für digitale Daten und ja, sowas gibt es noch) und dann an einem kalten Winterabend gemütlich die Füße hochlegen und sich an der Show erfreuen. Put the kettle on.

Gelesen: Susanne Saygin – “Feinde”

Angefangen hat alles mit dieser Rezension in der Zeit: https://bit.ly/3DdpOAd. Obwohl ich dem Thriller- und Krimigenre schon vor einer Weile abgeschworen hatte, dachte ich mir, “das klingt doch gar nicht so übel”. Weil ich aber ein systematischer Mensch bin, entschied ich mich, mit Band 1 der einsilbigen Titel der Isa-und-Can-Reihe anzufangen und orderte diesen gebraucht. Mit dem Resultat, dass ein höchstens einmal gelesenes Buch ankam, in dem alle “bösen Wörter” durchgestrichen sind, außerdem Grammatik- sowie Rechtschreib- und andere Verlagsschlampigkeitsfehler angemarkert. Ist im Heyne-Verlag erschienen, war also zu erwarten – also das schlampige Lektorat, meine ich. Die Schimpfwörter sind von Frau Saygin, wg. Atmosphäre. Gegen Ende werden die Korrekturen weniger, es sieht aus, als hätte der Vorbesitzer angesichts der schieren Menge an Fluch und Fehlern die Freude am Rotstifteln verloren.

Worum gehts nun eigentlich? Zunächst die dramatis personae: Heldin Isa, Tochter aus gutem Hause, macht aber ihr eigenes Ding, klug und schön, mit tiefen Narben, kennt und hatte sie alle. Held Can, Sohn eines (türkischen, huiui!) Ärzteehepaares, spätberufener Polizist, die Sache mit den Frauen könnte besser laufen. Die Beiden leben schon seit immer in einer WG in Köln zusammen.

Dann Leichenfunde unter mysteriösen Umständen und im Laufe der Ermittlungen kommen Korruption, Karneval & Kölscher Klüngel, Menschenhandel & Fremdenhaß, globale und lokale Ausbeutung, Balkan, das Schicksal der Roma und internationale Verflechtungen ans Licht. Der Erzschurke ist ein Bauunternehmer, dem Gesetze, wofern nicht nützlich, so recht von Herzen gleichgültig sind und der sich für die Umsetzung seiner Ziele (im wesentlichen Profitsteigerung) rechtsradikaler Gruppierungen bedient. So weit, so nah am wirklichen Leben.

Frau Saygin hat für ihren Erstling mehr als fünf Jahre recherchiert. Diese Arbeit will ich in keiner Weise schmälern. Die Umsetzung in ein fiktionales Werk ist nicht ganz so gut geglückt, denn wir finden uns wieder in Klischeeistan. Blondinen gibts nur in Weizenblond, bei Alternativen riecht es nach Patchouli, Menschen in Angst tragen den Blick immer nach Innen gekehrt, der fotobegeisterte Jugendfreund hat es zu einem eigenen Ausstellungsraum im Moma gebracht, bei reichen Leute spazieren Pfaue auf dem wohlgepflegten Rasen des Landguts, Kommissar Zufall erweist sich zu oft als bester Kollege, Rechte tragen zuverlässig SS-Runen-Tätowierungen, Turnschuhe und Chinos und lassen sich dadurch auch in größeren Menschenmengen recht einfach als Verfolger herausfinden. Als wir Köln für die Welt verlassen, wird es nicht weniger holzschnittartig. Hmmm.

Das Buch ist nicht ganz schlecht, aber weit von richtig gut. Dennoch werde ich bei Gelegenheit auch “Clash” lesen. Und sei es auch nur, um herauszufinden, ob der Verlag inzwischen die Lektorenstelle besetzt hat und Frau Saygin sich freier geschrieben hat, denn Potential hat sie fraglos.

Gelesen: Milena Moser – “Das schöne Leben der Toten – Vom unbeschwerten Umgang mit dem Ende”

Eine gute Freundin hat mir das Buch geliehen und mir damit eine große Freude gemacht. Der Schweizer Kein & Aber-Verlag hat seiner heimischen Star-Autorin ein ausgesprochen liebevoll aufbereitetes Büchlein mit Lesebändchen und allem als Rahmen für ihre sehr persönliche Geschichte über den Día de los Muertos gestaltet und Frau Moser erzählt.

Von der völlig überraschenden Liebe zu einem Künstlerkollegen mexikanischer Herkunft und dem Clash of Cultures zwischen der stets frisch gewaschenen und gekämmten Schweiz und dem fröhlich-bunten Chaos Mexikos. Vom jeweiligen Umgang mit dem Tod. Wo die einen ihre Toten wegschaffen und an einem grauen und nebligen Tag im November Erika auf Gräber pflanzen, feiern die anderen an eben diesem Tag ihre “Muertitos”, mit großen Gelagen, Musik, Tanz und Blumen. “Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben” klingt dann nicht mehr wie eine Drohung, sondern wie eine Verheißung.

Moser hat sich den Blick von Außen bewahrt, dabei aber über ihren schamanisch geschulten todkranken Victor sehr viel über Geschichte, Geschichten, Traditionen und Gebräuche und herrliche Rezepte gelernt. Dieses neue, oft mit Staunen erworbene Wissen, gibt sie sehr unprätentiös und mit vollen Händen weiter.

Bringt Licht in den westeuropäischen grauen November und liest sich weg wie nix,

Gestern in der Unterfahrt: Anika Nilles & Nevell

Was das Genre angeht, ist es schwer, die Band festzulegen – sie sind aber näher am Rock als am Jazz. Und ich bin entweder alt geworden (ja, doch) oder der Mann am Mischpult war nicht auf der Höhe seines Schaffens: es war vor allem laut, laut, laut. Trotz einer Besetzung mit sehr interessanten und sehr guten Musikern nahm mir der Lärm ein wenig vom Spaß.

Mein Begleiter war glücklich: er hätte ja, sagt er, im Stream weggeschaltet, aber live sei Noise doch etwas sehr schönes. Der ist aber auch über 20 Jahre jünger als ich und hart im Nehmen.