Neu zum Strömen (Amazon Prime): “Octopus!”

Man sollte meinen, dass sich nach dem oscarprämierten “My Octopus Teacher” aus dem Jahr 2020 jede weitere Acht-Tentakel-Neun-Gehirne-Wundertier-Dokumentation erübrigt hätte. Man würde sich täuschen.

Diese neue Doku mit Ausrufezeichen geht das Thema etwas verspielter und weiträumiger an, es wird neben geforscht und philosophiert auch genäht und gekocht und eine allerliebste KI-animierte Oktopussin (?) namens Doris führt durch ihren Lebenszyklus. Allein für diese an Stop-Motion mit Filzfigürchen erinnernde Animation könnte man die Macher knuddeln, aber noch viel mehr für ihre Entscheidung, die großartige Phoebe Waller-Bridge als Erzählerin zu engagieren. Wenn Fleabag mit dem dauerironischen Lächeln in der Stimme über Oktopoden spricht, dann ist das einfach zum Hinschmelzen. Außerdem tolle Unterwasser- und Landschaftsaufnahmen und interessante Menschen, die kluge Dinge zu sagen haben.

Perfekt. Zwei Folgen, mal schnell mit Freude weggeguckt.

Anschauen! Anschauen! Anschauen!

Ganz neu auf Netflix: “Love, Death & Robots”, 4. Staffel

Ganz viele IMDB*-Foristen motzen, weil, früher sei LDR (die coolen Leute verwenden Insider-Abkürzungen) so viel besser gewesen. Soooo viel besser, ey.

Find ich ja nicht. LDR ist wie immer. Ein großer Kessel Buntes, aus dem sich jeder seine Favoriten aussuchen kann. Von Marionettentheater (Red Hot Chili Peppers-Konzert in Slane Castle) über Zeichentrick, Animationen bis hin zu Dramoletten mit echten Schauspielern. Die beiden Scalzi-Beiträge erkennt man schon an der Inhaltsangabe, die Mini-Version einer Invasion von Aliens (“Close Encounters of the Mini Kind”) (letztes Mal war’s eine ebenso herzige Zombie-Apokalypse) ist drollig und schnuckelig und strotzt vor Zitaten, ganz reizend. Ich mochte auch die Zeichentrick-WW2-Flieger-Nazi-Gruselgeschichte (“How Zeke Got Religion”), weil ich dergleichen halt eh mag, dafür konnte ich mit den Dinosaurier-Gladioteren (“The Screaming of the Tyrannosaur”) nichts anfangen, wie das so ist mit den gemischten Tüten.

Nicht wichtig, aber gut genug für einen unterhaltsamen Abend.

* imdb.com, die Internet Movie Data Base darf als bekannt vorausgesetzt werden, ja?

Frühjahrsputz

Man möchte nicht glauben, wie lange man an so einen Balkon hinputzen kann, meine Herren! Und Damen! Sowie Kinderschar!

Sobald ich die Weltherrschaft angetreten haben werde, sind Silvesterfeuerwerk mit Schießpulverresten (immer noch!) sowie gelber klebriger Sahara-Sand umgehend verboten und Blüten sind künftig geheißen, in einem Radius herumzustauben, der meine Außenanlagen außen vor läßt.

Zum Glück hatte ich keine Lust, auch noch Fenster zu putzen. Was würde ich mich sonst über diesen Regenguß ärgern.

Schon länger nimmer neu im Fernsehen: “The Bridge (US)”

Jetzt ist schon wieder was passiert. Wieder liegt eine Leiche auf einer Staatsgrenze und fällt damit in die Zuständigkeit zweier Jurisdiktionen. Dieses Mal ist es kein Pass und kein Tunnel, sondern wieder einmal eine Brücke, wie im ursprünglichen dänisch-schwedischen Original. Die Brücke “of the Americas” verbindet (oder trennt, das liegt im Auge des Betrachters) El Paso in Texas, USA und Juárez, Mexiko.

Auf der amerikanischen Seite ermittelt Diane Kruger, die ich nicht für eine gute Schauspielerin halte (man denke nur an ihren schrecklichen Auftritt in “Inglorious Bastards”), die hier aber ideal besetzt ist, weil sie eine Autistin spielt, die zu keiner Gemütsregung und sozialer Interaktion fähig ist. Ihren Odd-Couple-Gegenpart gibt Demián Bichir, ein guter Schauspieler. Das langt für beide.

Neben den allgemeinen Themen wie Korruption, politischer und sonstiger Verkommenheit, Rassismus en gros et en détail werden in dieser Verfilmung das Geschäft mit der Migration, Bandenkriminalität und vor allem Femizide verhandelt. Wenn eine junge, vorzugsweise blonde Amerikanerin verschwindet? Großfahndung. Eine Mexikanerin? Schulterzucken. Die nächste, bitte.

Der Sender hat die Serie nach der zweiten Staffel gecancelt. Ich mach’s nach der ersten.

Gelesen: Richard Osman – “We solve Murders”

Da werden sich die Herrschaften, die an der Verfilmung beteiligt sein werden – und die wird kommen, darauf wette ich – aber sehr freuen. Statt beschränkt auf eine kleine Gemeinde in Englands grünen Hügeln wie in den bisher vier Bänden des “Thursday Murder Club” (s. https://flockblog.de/?p=50225; der 5. ist schon angekündigt), jagt das neue Entwicklerteam die Bösen in fotogenen Regionen wie der Karibik, der herrlichen Küste vor North Carolina, dem Goldglitzerluxus Dubais, und dem Weinland Irland – man möchte Location Scout sein.

Wie? Neues Entwicklerteam? Ja. Ein verwitweter pensionierter englischer Polizeibeamter, der seine Ruhestandsroutine ein bißchen belebt, indem er verschwundene Haustiere oder Ladendiebe findet und nein, nicht Tochter, nicht Sohn, Neffe oder Nichte, nein, seine Partnerin ist seine Schwiegertochter, die mit der unsäglich (meine ich wörtlich, wird immer nur angedeutet, dass es ganz gräßlich gewesen sein muss) schweren Kindheit und heute als erfolgreiche Personenschützerin tätig, mit allen Martial Arts Tricks und Waffen vertraut.

Osman erfindet herrlich skurrile Geschöpfe wie die überaus erfolgreiche erfolgreiche schwerreiche in ihrer Altersangaben sehr fluide Bestseller-Autorin und Lebefrau Rosie D’Antonio mit der Privatinsel und dem Privatjet und es geht auch schwer rund mit Morden und Komplotten und ChatGPT und wer-jetzt-gerade-wen-austrickst, ahaber… Ahaber ich habe schon im ersten Drittel erkannt, wer das böse-Drahtzieher-Mastermind ist und werde den Verdacht nicht los, dass es dieses Mal beim Schreiben schon arg um die Filmrechte ging, siehe oben. Anyway, er hat immer noch ein liebendes Auge für alle seine Figuren und Spaß an ihnen und ihren kleinen und großen Macken, Schwächen und Stärken, sie sind zwar Typen, aber keine Karikaturen. Dennoch. So ganz liebenswert wie die “Thursday Murder Club”-Serie ist “We solve Murders” nicht. Aber immer noch besser als vieles.

Man kann’s gut lesen.

Gestern in der Unterfahrt: Sun-Mi Hong Quintett

Von K-Pop hat jedermann und -frau schon einmal gehört, von K-Jazz eher nicht. Oder? Also, ich auf jeden Fall nicht. Seit gestern aber schon…

Was Schlagzeugerin und Komponistin Sun-Mi Hong und ihre ausgesprochen guten Mitmusiker Nicolò Ricci (Saxophon), Chaerin Im am Piano, Alessandro Fongaro am Bass und Alistair Payne (Trompete) an bis dato ungehörten Klangwelten schaffen ist beeindruckend. Und schön. Sehr schön. Sie spielen abwechselnd in der kleinen klassischen Formation (Klavier, Bass, Schlagzeug) und in der quasi großen Show-Band mit beiden Bläsern, jede Variante für sich neu und aufregend. Ich bin sehr fasziniert vom Trompeter Alistair Payne, der ein ganzes Bestiarium aus seinem Instrument winseln, heulen, wiehern, knurren, kreischen läßt – mein geschätzter Begleiter, Herr M., findet den Auftritt zu “gimmicky”. Ich bin halt leichter zu beeindrucken…

Ein sehr schönes Konzert und die Unterfahrt zwar gut, aber nicht brechend und atemberaubend voll. Hinreichend Sauerstoff steigert das Hörvermögen ungemein.

Wer mal reinhören mag:

Aufgeschnappt

Vor dem Aufbackregal beim Discounter versucht ein junger Mann seiner Begleiterin auf Englisch, einer Sprache, die für beide sehr offensichtlich nicht die Muttersprache ist, das Phänomen “Laugengebäck” zu erklären. Irgendwie “salty”, halt. Sie versteht hartnäckig nicht. Schließlich weiß er sich nicht mehr anders zu helfen, als ihr einfach ein Stück Breze in den Mund zu stecken.

Sie kaut, schluckt, die Augen beginnen zu leuchten und die beiden ziehen mit einer Tüte voller Brezn ab. Wieder jemand zur bayerischen Lebensart bekehrt.

Der Übersäzzer…

… dieser Filmbeschreibung dürfte künstlich sein und sich mit dem Beinamen “Intelligenz” geschmückt haben.

Mae Wests Ehemann war vielleicht weder groß noch dunkel oder gutaussehend, aber sein innerer Kopf war anscheinend nicht so kahl wie sein äußerer.

Gestern Abend in den Kammerspielen: “Mephisto”

Die erste Viertelstunde läßt Übles ahnen. Ein unvermittelter Einstieg in Schauspielergarderoben nach einer Vorstellung, es redet und rennt durcheinander, eine Schauspielerin zeigt nackte Brüste, man raucht und trinkt und spricht große druckreife und raumgreifende Sätze, die nichts mit gesprochener Sprache zu tun haben und wer die Romanvorlage von Klaus Mann nicht kennt, ist erst mal etwas verloren.

Dann aber dreht sich etwas, wie und wann genau, kann ich gar nicht sagen, und die Aufführung wird zum Theater. Regieanweisungen erklingen aus Lautsprechern, egal wie privat die Szene auch sein mag (Frühstückseier im Hause Höfgen). Vor allem das großartige sehr minimalistische Bühnenbild (Florian Lösche), beleucht- und rollbare Quader / Stelen, die mit einfachsten Mitteln große und kleinste Räume schaffen lassen und ein so noch nie gesehenes kongeniales Lichtdesign (Maximilian Kraußmüller) tragen die Atmosphäre. Und die Musik. Hach! Elias Krischke an Schlagzeug und Vibraphon. Hach! Ich frage mich immer noch, ob der das macht, weil er es kann oder ob eine versteckte Symbolik darin liegt, das einer wie seine Rollenfigur Hans Miklas, ein sehr früher Parteigenosse mit sehr niedriger Mitgliedsnummer, den Takt zu Höfgens Aufstieg schlägt? Aber ich greife vor.

Die Textfassung von Emilia Heinrich bleibt nah am Mann’schen Roman über den ungeliebten Schwager, Schauspieler, Intendanten, Opportunisten und Karrieristen Gustaf Gründgens. Regisseurin Jette Steckel will aber ein Stück inszenieren, das die Bedrohung der Kunst durch autoritäre Politik zeigt und so müssen Begriffe wie “Sondervermögen”, “Migranten” und “Goldenes Zeitalter” untergebracht werden, das Ensemble besonders divers (alle möglichen Hautfarben, Erwin Aljukić im Rollstuhl und auf Krücken), die ambivalente Sado-Maso-Beziehung zwischen Juliett, hier Julien (Bless Amada) und Höfgen (Thomas Schmauser) eine schwule Liebestragödie sein, Hitler eine MAGAkappe tragen und Flugblätter von einem Balkon geworfen werden (in München, Mann!) – als ob das Publikum nicht selber Transfer leisten könnte. Herrschaften, ey, keiner geht für eine über-drei-Stunden-lange Vorstellung ins Theater, wenn er lieber Seichtes hätte. Echt, die Leute sind doch nicht blöd.* Dann aber wird ein Hitlergruß kurz und klug konterkariert mit Danger Dans “Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.” Da musste ich sehr lachen. Danach verläßt die Inszenierung den Gehobenen-Zeigefinger-Modus und wendet sich stärker dem Individuum Höfgen zu. Das ist der Moment, in der sie großartig wird.

Auf dem Karriereweg Höfgens ist dies der erbettelte Wechsel von Hamburg nach Berlin. Dazu muss er der Frau an der Seite des Mächtigen (Johanna Elworths nervöse Lotte Lindemann ist zum Niederknien) schmeicheln und vor dem Intendanten kriechen (Edmund Telgenkämper). In der nächsten Schmeichel-Iteration erbettelt er sich wieder “seinen” Mephisto. Schmauser imitiert Gründgens in der Rolle nicht, nicht einmal die ikonische Maske, die er nur sehr kurz trägt. In der Schlüsselszene, in der nun der junge Miklas als Schüler zu Faust kommt, verschmiert er sie und ihm und sich das Gesicht. Fortan wird er Schminkereste im Gesicht tragen und zunehmend wächsener wirken.

Jetzt nimmt die Inszenierung Fahrt auf und es entstehen beeindruckende Bilder, wie das senkrechte Bett, in dem nicht nur zwei, sondern drei Menschen Platz finden müssen, das White-Facing Juliens, eine Tanznummer des inzwischen Ministerpräsidenten / Generals (Goebbels; gespielt von Edmund Telgenkämper, der auch den Intendanten und den Schwiegervater gibt), die in einer Stierkampfparodie mündet, bei der sich einem alles zusammenzieht. Danach trinken die Herren Cognac und die Dame fungiert als Stiefelknecht und dann tanzt der Mächtige zu Jazz, der “entarteten” Musik und es kümmert ihn einen Scheißdreck – alles pure Gewalt, ohne einen Tropfen Blut. Telgenkämper trägt als Ministerpräsident einen Uniformanzug mit Koppel und Breeches (Kompliment an Pauline Hüners Kostüme) und es ist der Rolle sehr zuträglich, dass er aussieht wie der neuerdings aufgepumpte Jeff Bezos.

Währenddessen toben im wächsernen Höfgen mehr und mehr Konflikte. Ja, er will Anerkennung, die des Publikums, die der Mächtigen. Aber er wäre auch gern ein guter Mensch und muss trotz seiner “Bemühungen” machtlos zusehen, wie das Regime zwei junge Wegbegleiter tötet, den Rechten und den Linken. Wie diese Szenen inszeniert sind und gespielt werden, ist herzzereißend. Dieser Höfgen dauert einen, man kann ihn aber auch nicht leiden. Hut ab vor Schmauser, der sich in diese Rolle wirft, als gäbe es kein Morgen.

Wo war ich? Ach ja, die Rahmenhandlung. Das Theater hat zur Geburtstagsfeier des Ministerpräsidenten eingeladen. Und wieder einmal geht das Licht im Zuschauerraum an, während Julien auf der Bühne einen Breakdance zelebriert und der bösartige Machthaber unterbricht und dann das Saalpublikum direkt anspricht. Das könne man ja wohl nicht haben, dass hier ein Schwarzer auf der Bühne herumzappelt und ein deutsche Publikum dazu applaudiere. Für diese Aussage fordert er Beifall ein. Nach meiner Schätzung ist ca. ein Viertel der Anwesenden der Aufforderung nachgekommen. Die anderen alle im Widerstand. (Mindestens.) Aus dem Off ein Jubelgedicht des Untergangspoeten Gottfried Benn auf den Führer, für das wieder zu Beifall animiert wird. Weniger, dieses Mal. Sehr beklemmende Momente.

Der Schluß ist gut und richtig, weil er keine Antwort gibt, sie nicht geben kann: Höfgens Exfrau (Linda Pöppel) konfrontiert ihn: „Es ist egal, wie viele Menschen du rettest. Du legitimierst hier Faschisten!“ Sein überforderter Blick geht zur Souffleuse. Sein letztes Wort: „Text?!“ Dann Vorhang.

Trotz ein paar Längen und unnötigen Übererklärungen ist Steckels “Mephisto” ein sehr guter Theaterabend geworden. Mit einem überragenden Ensemble: Bless Amada, Erwin Aljukić, Johanna Eiworth, Elias Krischke, Linda Pöppel, Thomas Schmauser, Maren Solty, Edmund Telgenkämper, Martin Weigel.

Das sich, nach dem Schlußapplaus, mit einer Ehrung vom jüngst verstorbenen Carl Hegemann verabschiedet. (https://www.youtube.com/watch?v=hr1LKqpwbI8)

Hingehen!

* Kurt Tucholsky hat dem anderen, dem blöden Publikum mit diesem Gedicht ein Denkmal gesetzt:

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: «Das Publikum will es so!»
Jeder Filmfritze sagt: «Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!»
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
«Gute Bücher gehn eben nicht!»
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte…
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann…
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann…
Ja, dann verdienst dus nicht besser.
Theobald Tiger
Die Weltbühne, 07.07.1931, Nr. 27, S. 32

Aufgeschnappt

Berstend vor Vaterstolz erzählt der Herr der Dame gegenüber im Vierer im Bus, dass sein “Sohn nun Amerikanismus” studiert.

Scheint, als sei das Angebot im Vergleich zu meiner Zeit breiter geworden.