Gelesen: Kurt Tucholsky – “Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut”; herausgegeben von Robert Stadlober

Der Tucholsky des Schauspielers und neuerdings auch Anderer-Leute-Werk-zu-eigener-Musik-Vortragenden Robert Stadlober ist ein Berliner Metropolenflaneur mit klarem Blick auf seine Stadt und ihre Metamorphosen. Es ist nicht der Schreiber schelmisch-schlüpfriger Couplets fürs Cabaret, nicht der lustig-tändelnde Spaßmacher und Salonautor, nicht der brillante Rezensent des Kulturbetriebs der Weimarer Republik, schon gar nicht ihr scharfer politischer Analyst, Denker und Mahner.

Das kann man so machen. Tucholskys Werk ist multidimensional. Ob man das so machen muss? Weiß nicht, mir würde was fehlen. Falls mal wer einen solchen musikalischen Abend mit Herrn Stadlober besucht, bitte ich, mir davon zu erzählen. Übrigens, das Büchlein aus dem Verbrecher-Verlag zu Berlin ist wunderhübsch besorgt und eignet sich großartig als Mitbringsel, wenn man nicht weiß, ob der zu besuchende Haushalt Rot- oder Weißwein bevorzugt und auf welche Blumen man dort allergisch reagieren könnte.

Aus dem Vokabelheft

Menschen aus diversen deutschen Gauen sind zu Gast und wie oft in solchen Fällen entspinnt sich eine Diskussion über den Genus von Butter. Der? Die? Das?

Es komme, postuliert ein zugereistes Nordlicht, ja nun wohl darauf an, “wo die Butter geboren” sei. Nämlich. Eine Runde Schnaps später prägen wir gemeinsam den Merksatz: “Wes Gras ich freß, des Kuh ich bin.” (Und der Cowboy darf dann festlegen, welches Pronomen Butter verwendet.)

Ja, ich habe die Diskussion sofort protokolliert. Und nein, ich verweigere mich der Unterstellung, dass ich mir Menschen nur einlade, um blogpost-Material zu sammeln. Ich tue das schon auch, um gemeinsam Alkohol zu trinken.

Gelesen: T. C. Boyle – “Stories I”

Ganz tiefer ehrfurchtsvoller Kotau. Gaaanz tief.

Neulich habe ich auf dem Buchumschlag eines anderen verehrten Autors seinen Blurb über einen weiteren verehrten Autor gelesen, dass jede seiner “Stories eine Masterclass” seien. Ich wünschte, das wäre mir eingefallen, denn das sind Boyles Kurzgeschichten. Meisterwerke. Ein Kaleidoskop von Epochen, Klassen, Regionen, Stadt und Land, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, Sprache, Manierismen, Sprachlosigkeit, unglaublich viel Wissen und immer in der genau passenden Diktion ganz genau auf den Punkt. In diesem Hirn würde ich zu gerne einmal Mäuschen spielen.

Ich habe mich mit ganz großem Genuß durch diesen 700-Seiten-Ziegel gelesen und der knapp tausendseitige Band II liegt schon auf dem Nachttisch. Was für ein Geschenk, dass ich nicht mehr Zeit auf Erwerbstätigkeit vergeuden muss, sondern ein paar Stunden am Tag lesen kann, wenn ich will.

Lesen! Lesen! Lesen!

Gelesen: Rebecca Solnit – “Men Explain Things to Me and Other Essays”

Solnit wird die Urheberschaft für den Begriff “Mansplaining” zugeschrieben, was beim Titel dieses schmalen Essaybandes nicht verwundert, von ihr aber zurückgewiesen ist. Allenfalls Patin sei sie gewesen. In sieben Essays erklärt sie sich und uns die Welt.

Ich bin nicht in allem mit ihr einig. Das macht aber nichts. Die inzwischen auch schon wieder 10 Jahre alten Essays sind Denkanstöße und sollten als solche gelesen werden. Wenn sich dann ein Diskurs daraus und darüber ergibt, ist das Ziel erreicht.

Ein paar junge Frauen in meinem Umfeld dürfen sich dieses Jahr auf ein sehr schön besorgtes Büchlein mit Bildern der mexikanischen Künstlerin Ana Teresa Fernández (s. https://anateresafernandez.com/category/paintings/) an den Kapitelanfängen zu ihren Geburtstagen freuen.

JOSHDAY

Wer die Daily Show mit Jon Stewart kennt, der/die kennt auch Josh Johnson. Ich mag den schon lange sehr gern, habe aber erst vor kurzem entdeckt, dass er immer dienstags seine neuen Stand-ups auf YouTube hochlädt. Ein/e mir geistesverwandte Forist/in kommentiert diese Dreiviertelstunden mit den Worten: “This isn’t even stand up, this is just public service.”

Richtig, Ironorchids. Ganz meine Meinung.

Falls wer Lust hat:

Genug ist auch mal genug

Esse gerade ein Eis mit “Peanut-Crunch-Bites”. Bin nicht ganz sicher, ob ich den Leuten, die verantwortlich sind, dafür danken soll, dass insgesamt drei Mal auf dem Becher die Warnung “kann Spuren von Erdnüssen enthalten” aufgedruckt ist.

Ich für meinen Teil habe das so gewollt und wäre andernfalls bitter enttäuscht.

Gestern Abend in der Unterfahrt: “Jakob Maes Jazzorchester”

Holla die Waldfee! Siebzehn Musiker auf der Bühne der Unterfahrt, davon vier an anderen als Blasinstrumenten sowie der Bandleader und Dirigent davor. Und wir in der ersten Reihe. Ich muss mir wirklich mal angewöhnen, meine “volume-adjusting”-Ohrschützer mit mir zu führen.

Der Dirigent ist ebenfalls für die Conference zuständig und das macht er eher unbeholfen, man denke: Teilnehmer an einer Jugendgemeindereise zum Kirchentag, vom Typus eher zurückhaltend, der spontan wegen eines Notfalls einspringen und zum ersten Mal im Leben öffentlich auftreten muss. Er macht das wirklich nicht gut.

Das Konzert hingegen ist ein schönes, die Soli begeistern, dennoch war ich mit der Zugabe dann auch sattgehört und konnte ohne Bedauern die Heimreise antreten.

Gestern Vormittag im Kunstfoyer der Versicherungskammer: “Bruce Gilden. A Closer Look.”

Das Kunstfoyer, eine sehr löbliche Einrichtung, eröffnet seine neuen Räume am Thierschplatz 6 (einfach nur einmal direkt aus der U-Bahnhaltestelle Lehel umfallen, schon ist man da) mit einer Ausstellung von Fotografien von Bruce Gilden, seines Zeichens “Street Photographer”. Und Mitglied bei Magnum. Und vielfach preisgekrönt und ausgezeichnet. Und ein Meister seines Fachs. Und, mit Verlaub, ein Arschloch.

Seine Fotos sind meisterhaft. Beeindruckend. Gerade die schwarz-weißen Straßenszenen der frühen Jahre in New York, Tokio, Miami – da ist er nah an den Menschen. Ein Zeitzeuge. Wenn er aber im Interview über seinen Fotografiestil salbadert, kommt er unendlich arrogant und heuchlerisch daher. Gilden ist ein typischer Fall für die Trennung von Künstler und Werk. Hätten wir nämlich, wie eigentlich geplant, das Interview zur Einführung in ganzer Länge zu Ende gehört, hätten wir die Bilder, egal wie gut oder schlecht, nicht mehr sehen mögen.

So aber kann ich berichten, dass die Fotos großartig sind und die riesenformatig aufgezogenen Portäts in der unteren Etage noch einmal eine ganz besondere Klasse für sich.

Als Empfehlung: Gildens Bilder sagen mehr als seine tausend Worte…

Bis 7. September. Täglich geöffnet, von 10 bis 18 Uhr. Eintritt frei.

Noch zum Strömen: “Fleabag”

Das kommt davon. Da will ich mir eine Naturdoku anschauen und den Ermahnungen, die Schlafhygiene einzuhalten folgend, früh ins Bett und dann habe ich Phoebe Waller-Bridge im Ohr und das dringende Bedürfnis, sofort und umgehend noch einmal in “Fleabags” Universum einzutauchen. Schlafhygiene mache ich dann morgen. Ich habe ja Zeit.

Fleabag ist den 10 Jahren seit der Erstausstrahlung 2016 kein Stück gealtert und immer noch frisch und aktuell und so phänomenal wie beim ersten Mal. Wer die tragikkomische Geschichte einer jungen Londonerin noch nicht kennt, dem sei sie dringend ans Herz gelegt, wer sie kennt, sollte sich fragen, ob es nicht an der Zeit wäre? Nochmal? Hmmm?

Phoebe Waller-Bridge ist für alles verantwortlich: Idee, Buch, Inszenierung und Hauptrolle und allein dafür möchte man beide Knie beugen. Dass sie dann aber auch noch einen ebenbürtigen Cast um sich hat, eine und ein jeder in der ganz hohen Hach!-Kategorie macht die zwei Staffeln über fünf Stunden zur ganz hellen Freude. Multiple Hach!

Anschauen! Anschauen! Anschauen!