In meiner Jugend Maienblüte gab es einige wenige sehr feste Regeln, darunter die, dass man jedes Jahr an einer Sommergrippe zu leiden hatte. Erworben wurde der Infekt traditionell auf dem Marktplatz, wo kulturbeflissene Menschen, getrieben von einer Mischung aus schwäbischer Sparsamkeit und Ganzvornesitzenwollen, schon Stunden vor Beginn der Generalprobe (“jede Karte 5 Mark”) auf den orangefarbenen Plastikstühlen mit den wannenförmigen Sitzflächen ausharrten, mit einer Wolldecke untenrum und einem Derischnochgut-Regenponcho drüber (war er nie, noch nicht mal ganz neu), bis endlich das Spiel auf der Treppe der St. Michaelskirche, bei dem die Schauspieler auf den regennassen glitschigen Stufen teils akrobatische Meisterleistungen darboten, spätnachts zu Ende war und das Publikum, mangels Bewegung, steif, blaugefroren und krank. Das waren die Zeiten, in denen ich noch glaubte, dass das Wort “Regisseur” ein Synonym von Achim Plato sein müsse; seine Intendanz mit angeschlossener Regietätigkeit umfaßte immerhin die Jahre 1969 bis 2003.
Warum erzähle ich das alles? Weil ich auf dieser Treppe zum ersten Mal die “Italienische Nacht” von Horvath gesehen habe, in einer Inszenierung, die den Autor sicher erheitert hätte. Man hatte nämlich, geschuldet der notorischen Unterfinanzierung des kommunalen Kulturbetriebs sowie dem schon oben erwähnten sehr schwäbischen Geiz, die Komparsen für den SA-Schlägertrupp beim Goethe-Institut rekrutiert. Was zur Folge hatte, dass, zumindest in meiner Heimatstadt, Nazis als fröhlicher multikultureller Haufen in allen Hautfarben in Uniformen in diversen Matschtönen in Erscheinung traten.
So, nun zur Gegenwart. Im Deutschen Theatermuseum zu München gastiert derzeit eine Ausstellung des Theatermuseums Wien, erweitert um die Aspekte von Horvaths Münchner und Murnauer Schaffen. Der Gestalter der Ausstellung, Peter Karlhuber, ist von Beruf Bühnenbildner und hat die drei “Volksstücke” (Italienische Nacht, Kasimir und Karoline, Geschichen aus dem Wienerwald) in zwei Räumen und dem Treppenhaus wie Bühnenbilder aufgebaut. Ein Wirtshaus nach der Schlägerei mit zerissenen Dekorationen, umgestürzten Biertischgarnituren und Krügen am Boden, einen oktoberfestinspirierten Rummelplatz mit Kettenkarussel und die Schlachterei sowie die Puppenklinik rund um den Wiener Heurigen.
Dazwischen Zeitzeugnisse, Arbeitsproben, Biographisches. Zum Beispiel gleich am Eingang der Ast, der den Horvath in Paris erschlagen hat. Und dazu Josef Hader in einer Videoinstallation in Dauerschleife, der auf eben diesem Ast in seinem “Hader muß weg”-Programm eine irrwitzige Zeitreise unternimmt.
Auf dem Rummel kann man sich, wie überall in der Ausstellung, auf einer Bierbank niederlassen und Videos schauen. Zum Beispiel das, in dem eine blutjunge Ruth Drexel als sehr berührende Karoline ihre Einsicht zur Rolle der Frau zusammenfaßt. “Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich. Aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln, und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.” Oder hinten in der Schlachterei in Wien, wo Qualtinger das Töten der Sau dem Gehilfen überträgt, weil ihm das Abstechen heute einfach keine rechte Freude macht.
Ich hatte ganz vergessen, wie viele druckreife Sprüche Horvath in seine Stücke geschrieben hat. Die Kuratoren haben sie ausgegraben und sehr treffend auf Bierkrüge gedruckt. Man möchte einen jeden mitnehmen und diesen ganz besonders: “Ein jeder intelligente Mensch ist ein Pessimist”.
Hingehen. Anschauen. Zeit genug ist, die Ausstellung läuft noch bis Mitte November.