Vergangenheitsbewältigung

Zur Zeit helfe ich einer australischen Bekannten, deren Großeltern nach ihrer Inhaftierung in deutschen Konzentrationslagern 1950 mit ihren Kindern nach Down Under auswandern konnten, bei Nachforschungen in deutschen Archiven. Mit Übersetzungen, Sütterlin-Schrift entziffern, Einsortieren in historische Zusammenhänge und dem Entschlüsseln deutscher Bürokratensprache. Alles nicht leicht.

Wir kannten uns bisher nur virtuell, aber zur Zeit ist sie zum ersten Mal im Leben auf dem, was sie selbst eine “Pilgerfahrt” nennt. Zum ersten Mal im Herkunftsland von Großvater und Großmutter, solange sie selbst noch Kraft genug für eine so weite Reise hat. Im Rahmen dieses Unterfangens waren wir heute gemeinsam in der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Holla. Ich durfte als Besucherin des Archivs ausnahmsweise auf dem Mitarbeiterparkplatz parken, was bedeutet, dass man auf dem Weg dortin die Alte-Römer-Straße langfährt. Vorbei an einem doppelten Stacheldrahtzaun, an Baracken, an Exerzierflächen, an Wachtürmen – ich fand es ganz und gar grausig (und war heilfroh, als die Schranke auf dem Weg hinaus sich einfach so geöffnet hat und ich einfach so wieder wegfahren konnte).

Wenn es wen interessiert, erzähle ich davon. Für heute muss reichen, dass es mich sehr mitgenommen hat.

Untermieter

Es scheint sich um eine saisonale Wohngemeinschaft zu handeln, zwischen dem Herrn Rilke (s. https://flockblog.de/?p=50789) und mir. Er ist wieder zugezogen, verharrt vorwiegend und dabei zart bebend in der Nordecke über der Badewanne. Nur neulich, da scheint ihn der Teufel geritten zu haben und er hat todesmutig (und das ist kein Euphemismus, kein bißchen) mit mir geduscht.

Er hatte nicht lange Spaß am Seegang, und als ich ihn aus einem Shampoo-Schaumwölkchen geborgen hatte, kauerte er naß bis auf was auch immer bei Spinnentieren das Äquivalent von Knochen ist, schlotternd und zähneklappernd (doch, doch) mit ausgesprochen vorwurfsvollem Ausdruck am Badewannenrand.

Inzwischen scheint er sich von seinem Abenteuer erholt zu haben und bebt wieder zart oben in seiner Ecke, aber mir scheint, dass er hinkt. Wenn ich richtig gezählt habe, fehlt ein Bein. Aber, sagt der NABU, das macht nichts: “Weberknechte besitzen an ihren Beinen eine Sollbruchstelle und werfen bei Gefahr schnell mal ein Bein ab, um dadurch einem möglichen Fressfeind zu entkommen.”

Bedeutet das fehlende Bein, dass unsere Beziehung einen Dämpfer bekommen hat? Rilke kann doch nicht ernsthaft glauben, dass ich ihn essen würde? Oder? Das wird mir ein schöner Herbst werden mit uns beiden…

Wenn einer eine Reise tut

Als Diktator hat man es nicht leicht, man muss man ja an so vieles denken, woran der gemeine unterdrückte Untertan gar keinen Gedanken verschwendet. So zum Beispiel den Fußabdruck. Nei-hein, nicht den ökologischen, was für ein Schwachsinn. Dafür gibt’s gleich mal 20 Peitschenhiebe.

Nein, der Diktator (ich lasse es mal beim generischen Maskulinum, mir fällt auf Anhieb gerade gar keine Frau in dem Job ein), also der Diktator denkt an den genetischen Fußabdruck. Also seine höchstpersönlich eigene Diktatoren-DNA, die er natürlich niemandem zur möglicherweisen bösen Verwendung überlassen will.

Und so reisen Despoten wie Vladimir Putin und Kim Jong Un usw. mit einem Team aus Oberflächenabwischern. Tische, Stühle, Bänke, geschüttelte Hände, geküßte Babies – flugs DNA-wisch und weg. Keine Ahnung allerdings, wie man sich das bei Staatsbanketten vorzustellen hat. Reist der Diktator mit eigenem Geschirr und Besteck? Oder führen die hierfür zuständigen Helferlein mobile Verbrennungsöfen mit sich? Werden abgegessene Teller und leere Gläser von ihnen gegriffen und gehen wu-husch in Flammen auf? Muss immer nach der Abreise das gute Geschirr wieder nachgekauft werden? Wie lange machen selbst wohlwollende Gastgeber bei drei bis fünf Mahlzeiten am Tag (ohne Snacks) sowas mit?

Bettwäsche und Handtücher bringt ein erfahrener Despot in alter Jugendherbergstradition wahrscheinlich von daheim mit und wäscht sie erst wieder zu Hause in linientreuen Waschmaschinen. Das ist zugegebenermaßen eine Vermutung. Belegt hingegen ist, dass Tyrannenscheiße vom hierfür verantwortlichen Autokratenexkrementbeauftragten (“Dr. AEB”, wenigstens der Titel soll gut klingen bei diesem Sch…job) aus den jeweiligen Kloschüsseln gefischt, in einen Metallbehälter verbracht und vom Chef wieder mit nach Hause genommen werden.

Leider funktioniert die Pointe nur auf Englisch und nur für den russischen Obermufti, aber das schafft ihr. Scheiße heißt auf Englisch “poo”, gesprochen “pu”. Ein metallener Behälter, als quasi eine große Dose, heißt “tin”, gesprochen “tin”. Es handelt sich bei dem Behälter also um Vladimirs poo tin. Höhö.

Vorhin, in der U-Bahn 2 (Heute war viel los)

“Haa-aalt! Halloho! Haa-aalt!” rufe ich, während ich mit den Armen wedelnd dem Herrn nachlaufe, mit dem ich bis eben die Wartebank geteilt hatte – “Haa-aalt! Halloho! Sie haben Ihren Schirm liegenlassen!” Er, zwischen Waggonschwelle und automatischer Tür: “Deafan’S bhoitn. Hod eh aufghert.”

Ja, dann. Dankeschön, Herr Unbekannt, für den neuen schönen handlichen blauen Knirps fürs Auto. Falls es doch je irgendwann mal wieder regnen sollte.

Vorhin, in der U-Bahn

Die junge Frau neben mir liest “Rich Habits”, womit ich erst mal nichts anfangen kann. Seit ich es aber eben nachgelesen habe, kann ich: Die junge Frau unternimmt offensichtlich den Versuch, sich selbst zu optimieren. Durch die Lektüre eines Ratgebers, dessen Botschaft in der Essenz ist “Benimm dich wie ein Reicher, dann wirst du reich”.

Hier die zehn bahnbrechenden Schritte zum Erfolg:

Ich vermute ja, dass sie mit Regel 11 “Entferne qualvoll langsam deine Handtasche vom freien Sitz neben dir, damit die freche Alte merkt, dass sie in deiner Nähe nichts zu suchen hat” angefangen hat – bei solchen Leuten macht es mir immer extra Spaß, mich gut vernehmlich für ihre Freundlichkeit zu bedanken. Vielleicht hätte ich ihr alternativ den Ratgeber “Bitch Habits” ans Herz legen sollen. (Muss ich bloß noch schreiben…)

Weil ich das Buch nicht kaufen wollte, sondern nur schnell gucken, um was es sich eigentlich handelt, habe ich kurz bei Amazon nachgesehen und dabei zu meiner Freude entdeckt, wofür Menschen, die dieses dumme Machwerk kaufen, sonst noch so Geld ausgeben.

Nichts sagt so deutlich “ich wär so gerne Millionär” wie Klamotten von Tommy, Hugo und Calvin. Im Fünferpack.

Gestern, im Großraum Stuttgart

Ich fahre, seit ich den Führerschein habe, gebrauchte Modelle aus erster, zweiter, dritter Hand und habe noch nie mein neues Auto bei einem Händler “übernommen”. Weil man aber nie auslernt, habe ich gestern eine Freundin begleitet, die einmal jährlich ihr Leasing-Fahrzeug gegen ein neues austauscht und viel gelernt.

Mercedes hat zu diesem Zweck in Sindelfingen ein gigantisches “Kundencenter”, huiuiui. Zunächst “Fahrzeugannahme”. Schon die schiere Menge an Parkplätzen dort ist überwältigend. Im Inneren weisen Schilder zu einem massiven Tresen, hinter dem gutaussehende freundlich zwitschernde junge Frauen Unterlagen, Schlüssel und die neuen Schilder übernehmen. Wer nichts zu tun hat (ich) wird auf luxuriösen Sitzmöbeln zwischengelagert und läßt den Blick schweifen. Über die edlen Holzverkleidungen, die geschmackvoll gefliesten Böden, das ganze noble Design. Öha. Und alles nur, um Fahrzeuge abzugeben. Oh, schon fertig? Dabei hatte ich eigens ein Wartebuch mitgenommen. Bin über die erste Seite nicht hinausgekommen.

Das neue Auto ist in einer Stunde abholbereit, die Wartezeit vertreiben wir uns mit Lunch. Zu dem Mercedes selbstverständlich einlädt. Durch ein parkähnliches Gelände promenieren wir, an Kunst und Bänkchen vorbei, zum Kasino, bekommen eine wohlschmeckende Mahlzeit gereicht und nehmen anschließend den Kaffee auf der Terrasse. Vorbei an einem immensen Giftshop mit Mercedes-Memorabilia und Familien in Neonwesten auf dem Weg zur Werksberichtigung gehen wir zum nächsten Tresen (gutaussehende freundlich zwitschernde junge Frauen) und werden gebeten, noch einen Momentele auf anderen Designermöbeln Platz zu nehmen, vielleicht noch ein oder zwei oder drei Wasser für die Fahrt* einstecken, bis der reizende Herr Ost (“wie West”) uns abholt. Eine ganze Halle voller funkelnagerneuer PKW, sogar ein Maybach wird heute auf die Straße entlassen.

Herr Ost zeigt, erklärt, weist ein, nimmt Wunscheinstellungen vor und programmiert ins Navi nicht etwa nur die Heimatadresse, sondern auch als ersten Zwischenstop die nächste rechts an der Straße gelegene Tankstelle ein. Totales Pampering. Nur tanken müssen wir dann selber. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Neuwagen und schon gar nicht einen mit Stern vorne, ich bin ganz überwältigt. Fasse mich aber schnell wieder, denn ich bin zuständig für die Jungfernfahrt zurück nach München. In Gedanken zu diesem Soundtrack:

Dank fünf Jahren Hunsrück und in dieser Zeit ständig neuen Leihwagen, gewöhne ich mich leicht, und darf berichten, dass ich jetzt auch B-Klasse kann. Außerdem weiß ich jetzt zu schätzen, was ich habe und bin ich sehr dankbar, dass mein alter Corolla kein Sicherheitsfanatiker ist und nicht ständig bimmelt und klingelt, wenn er findet, dass ich zu schnell oder zu nah am Mittelstreifen fahre und nicht alle Nase lang (das erste Mal nach 20 Minuten) eine dampfende Kaffeetasse einblendet, wenn er gerne ein Päuschen machen würde (und dann die Minuten aufzählt), sondern mit zutraut, dass ich schon selber weiß, wann ich Kaffee oder Klo will.

* Das “Kühlwasser für Sie” wird in Halbliter-“Carbon-Trust”-Tetrapacks in sehr kalt oder gut klimatisierter Raumtemperatur gereicht, in edlem Nachtschwarz mit blauer Kanagawa-Welle und der Container passt selbstverständlich sowas von hundertprozentig in die Cupholder des Neuwagens, dass es schon fast hundertzehn Prozent sind.

Neu auf Netflix: “Wednesday”, 2. Staffel, 2. Hälfte

Ausgerechnet ein Streamingdienst, der maßgeblich für die Erfindung des Binge-Watchings mitverantwortlich ist, hat nun anscheinend herausgefunden, dass die Kundenbindung besser wird, wenn man die Ware dosiert. Hatten wohl keine Oma wie meine, deren Weisheit “mach dich rar, Kind, dann bleibste interessant” mir seit meiner frühen Jugend unaufgefordert regelmäßig in den Ohren klang. Manchmal sogar, wenn Oma gar nicht da war… Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, bis das Marketing bei Netflix auf die revolutionäre Idee kommt, Serienfolgen wöchentlich auszustrahlen.

Diese zweite Hälfte hat die Erwartungen erfüllt, die der erste geweckt hatte. Gruselige Monster, Toccata and Fuge (ganz überhaupt: sehr gelungene Musikauswahl und ungewöhnlicher Vortrag), Experimente in dunklen Kellergewölben, gerechte grausame Bestrafung der Bösen (ätsch, Steve Buscemi), jedes mögliche Frankenstein/Monster-Klischee ausgereizt, family values sowie gute Freunde kann niemand trennen, oho. Klein-Wednesday ist jetzt gar nicht mehr so klein und groß genug, um im dritten Teil im Motorradbeiwagen mit Uncle Fester auf einen Road Trip zu gehen.

Irgendwie fand ich alles ein bissele fad, recht breit getreten – wie schon mal gesehen und der Logikfehler, der zur Auflösung der letzten Folge führt, ist auch nicht gerade hilfreich. Möglicherweise war ich einfach gestern Abend ungnädig und nicht ganz in der richtigen Stimmung für Grusel-Fantasy, vielleicht bin ich aber auch dem Charme der alten Fernsehserie* aus den frühen Sechzigern erlegen. In der identifiziert der Zuschauer des 3. Millenniums (die Zuschauerin auch) alle zum x-ten Male wiederholt hineingeschnittenen Szenen, ist aber insgesamt eher gerührt. Quasi: oaah, wie süß. Für dergleichen Sympathie ist diese neuere Verfilmung aber zu perfekt.

Okay, ich war ungnädig. Man kann sich nämlich diese zweite Staffel von “Wedneday” durchaus ansehen. Muß nicht. Aber kann.

* https://www.youtube.com/playlist?list=PLwwhtOnMyjuxQy81h7uJMCdsR-bS-uVaD