…in denen der Begriff “Kinnträger” als Beschimpfung für einen sorglosen Gesellen taugt.
Einer jener Tage (Erinnerung an die Sommerferien 2020)
Django von Nebenan ist seit vier Uhr früh auf den Beinen, um die Sonne aufzuwecken. Man sollte meinen, dass so ein Hahn damit sein Tagwerk erledigt hätte, aber weit gefehlt. Django hat nicht nur den eigenen Hühnerharem, sondern auch noch den von Nebenan zu begatten, damit sich sein stolzer Vaterblick an vielen vielen weiteren gelben Flauschbieberln weiden kann. Ganz ehrlich? Vaterschaftsklagen und Junggeflügel sind mit um die Zeit noch mehr totwurscht als sonst. Andererseits, wo ich schon wach bin, kann ich auch aufstehen. Schlaf aus den Augen gewaschen, Haare gekämmt, Zähne geputzt, vielleicht schaffen die Hausherrin und ich noch einen Frühschwimm im See um die Ecke, bevor der Tag ernstlich anfängt.
Nix da! Aus dem Frühstücksfernsehen gröhlt mich ein für die Tageszeit viel zu fröhlicher Bayer mit rollendem “R” an. Jungbrunnen Joghurt schreit er, und dass jetzt lifestyle-bewußte Chinesen dem armen Bulgarien auf der Suche nach der ewigen Jugend auf den Leib rücken. Entweder liegt es an der Tageszeit oder an meinen ungewaschenen Ohren oder an diesem Berufsbayern, aber der rollt doch das “R” sogar bei “Ewige Jugend”, herrjemineh.
Es kann ja nur noch seltsamer werden. Wird es. Ein kalifornischer Freund schreibt, sie seien nun dazu übergegangen, ihren zukünftigen Ex-Präsidenten nur noch Herr Gropinfuhrer zu nennen. Ob ich wohl die Rechtschreibung prüfen könne. Muss ich nicht. Ist super so. Noch keine neun Uhr und alle wahnsinnig.
Wie werde ich…
…eine erfolgreiche SciFi-Autorin? Es reicht offensichtlich, alliterative Namen erfinden sowie Sixpacks googeln zu können. Fertig ist die reißerische Serie Alien Abduction.


Schade, dass ich das nicht früher gewußt habe. Die Titel fließen einem geradezu aus der Feder… Ida und der Incubus. Jorinde und der Jägersmann. Karla und der Kaminfeger.
Ferienleseliste
Meine Ferien habe ich natürlich nicht nur genutzt, um zu schwimmen, zu bräunen und gut zu essen und zu trinken, nein, nicht doch. Das gute Gastgeberkind hatte mir auch einen Stapel Bücher zum Weglesen hinterlassen, was ich weisungsgemäß getan habe. Nachfolgend und absteigend in der Lesefreude, die ich durch sie erfahren habe.
- Nicky Singer (Autor), Frauke Schneider (Illustrator), Birgit Salzmann (Übersetzer) – “Davor und Danach: Überleben ist nicht genug“
Großartige Klima-Katastrophen-Dystopie mit einer gerade mal vierzehnjährigen wohl selbstreflektierten Heldin. Mein unbedingter Favorit.
Wenn da nicht am letzten Tag noch was dazwischen gekommen wäre, nämlich:
- Mariana Leky – “Was man von hier aus sehen kann“
Ich weiß gar nicht, wie ich dieses Buch beschreiben soll. Es ist ein Heimatroman. Und eine Art Märchen. Sehr lebensweise. Sehr unaufgeregt und doch weltengroß. Schrullig, eigenartig, herzerwärmend. Es passiert nichts. Und davon jede Menge.
Vollkommen anders als vieles, was ich bisher gelesen habe. Man muss sich auch erst einlassen auf die wunderliche Sprache, die vielen Wiederholungen, die vermeintliche Enge des Westerwalddörfchens, um wie die Erzählerin Luise weit darüber hinaus zu wachsen.
Deswegen, Damunherrnliebezuschauerinnenunzuscherliebekinder (Trommelwirbel) gibt es auf Sabines Sommerferienleseliste zwei erste Plätze. Beide Werke seien unbedingt zur Lektüre empfohlen! - Davide Morosinotto (Autor), Dr. Cornelia Panzacchi (Übersetzer)
a) “Die Mississippi Bande – Wie wir mit drei Dollar reich wurden“
Eine sehr liebenswerte Fabuliergeschichte in der Tradition Mark Twains über eine Gruppe Kinder, die nichts zu verlieren, aber sehr viel zu gewinnen haben. Und es sehr beherzt tun.
b) “Verloren in Eis und Schnee: Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow“
Das dreizehnjährige Zwillingspaar Nadja und Viktor wird 1941 aus Leningrad evakuiert und fast sofort auseinandergerissen. Dem Autor gelingt es, Krieg, Kälte und Grausamkeit des großen vaterländischen Krieges altersgerecht und nichtsdestoweniger authentisch zu beschreiben. Ein wirklich sehr gelungener historischer Roman für Jugendliche.
Die im Thienemann-Verlag erschienen Bücher sind ausnahmslos liebevoll und sehr hochwertig besorgt, hätten sie noch Lesebändchen, könnte man sie sich nicht schöner wünschen. - Celeste Ng (sprich “Ing”, Autor) und Brigitte Jakobeit (Übersetzer) – “Was ich euch nicht erzählte“
Ein an sich packender sehr atmosphärisch dichter Familien-/Gesellschaftsroman über die drei Kinder eines chinesisch stämmigen Vaters und einer born-and-bread-amerikanischen Mutter in den Siebziger Jahren, deren eine Tochter im “Land der unbegrenzten Möglichkeiten” letztlich an den durch Rassismus geprägten Biographien ihrer Eltern zerbricht. Das Lesen hätte sicher im Original mehr Freude bereitet als in der grottenschlechten Übersetzung.
Beispiel? Beispiel: Der Mutter wird der voraussichtliche Geburtstermin ihres Kindes mitgeteilt. Im Original heißt das sowas wie “You are due in January”. In der Übersetzung wird daraus: “Sie sind im Januar fällig.” Ohne solche Grauseligkeiten wäre das Buch wesentlich weiter oben auf der Liste gelandet. - Lutz Hübner – “Das Herz eines Boxers“
Dieses Stück ist zwar schon aus dem Jahre 1996 und schon nach eineinhalb Seiten erkennbar als klassischer GRIPS-Theater-Uraufführungsstoff. In Kürze: Generationskonflikt und dessen Überwindung. Ich hoffe, es bleibt dem Kinde erspart, es in der Klasse in verteilten Rollen kaputtlesen zu müssen. (Schullektüre für das kommende Schuljahr.) - Sarah Crossan (Autor), Cordula Setsman (Übersetzer) – “Eins“
Ganz üble Zeilenschinderei über ein Paar siamesischer Zwillinge. Muß man nicht lesen.
Gestern Abend in St. Maximilian (Glockenbachviertel) – Jedermann
Den Herrn von Hofmannsthal hätte es bestimmt gefreut, sein Mysterienspiel vom Sterben des reichen Mannes in einer Kirche zu sehen. Unter Corona-Bedingungen gleich gar. Statt der schweren alte Bänke stehen nun dort im Kirchenschiff links und rechts vor dem Altar mit Bast bezogene Stühle, beweglich, so dass “Virusgruppen” (früher: “Familien”) näher bei- und Fremde weiter auseinandersitzen können. Die Bühne ist ein mit rotem Stoff bezogener Catwalk, der ca. ein Drittel des Ganges von Altar zum Eingang einnimmt sowie Kanzel, Altar, Tabernakel, alles, was die Kirche so hergibt.
Den Jedermann spielt Ulrike Dostal im schwarz-weißen ansehnlich dekolletierten (einmal ganz knapp vor Nippelgate) Animalprintkleid mit Riemchenschuhen voll Verve und guter Stimme sowie viel auf den Boden werfen und grazil wieder aufrichten, changierend zwischen orginalem Hofmannsthalschem Knittelvers, zeitgenössischem Hochdeutsch und g’schertem Münchner Bayrisch. Ihre attraktive Buhlschaft ist der “Ich-bin-Künstler”-Dutt-Bart-Gitarre-Typ Philipp Andriotis (den sie im eilends hergestellten Programmflyer mit einem Extra-T zum Andriotits gemacht haben). Mikroport und Kirchenakustik sind seiner Verständlichkeit nicht zuträglich, das macht aber nichts, weil er mit einer solchen Wucht spielt, dass man statt der Stimme halt dem Körper zuhört und die Figur so vielleicht sogar noch besser versteht. Der Gesell der Jederfrau ist eine “beste Freundin” (Christine Kellerer), ein It-Girl der Münchner Society, die genau so bei Regine Sixts “Damenwies’n” und anderen “Hauptsache hübsch und gut gestyled”-Insta-Gesellschaftsereignissen anzutreffen ist. Amadeus Bodis gibt die “Dreifaltigkeit”, bestehend aus Gott, Tod (sehr beeindruckend, wie er den Jedermann von der höchsten Empore ausruft) und Teufel. Seit gestern weiß ich: der Teufel ist Radfahrer. Bleibt noch Mammon, der schwer symbolisch in einer goldenen Mülltonne vor den Altar gerollt wird, die guten Werke, verkörpert von Lucia von Damnitz und ihrem Sopran sowie der Glaube, den der Hausherr, Pfarrer Rainer Maria Schießler, mit sichtbarem Spaß und einer langen weißen Kutte über den Trecking-Shorts selbst gibt.
Das Spiel ist wie immer: die reiche Hedonistin lebt in Saus und Braus und hat für die vom Schicksal weniger Begünstigten nur Spott übrig, bis der Tod anklopft und alle die vermeintlichen Freunde aus guten Tagen sich von ihr abwenden. Keine/r will sie vors göttliche Gericht begleiten, nur die furchtbar schwachen guten Werke würden ihr zur Seite stehen, wenn sie könnten, und der Glaube. Jedermann tut Sühne, erwirkt Gnade und entkommt kurz vor knapp dem Teufel in die Arme eines gnädigen Gottes.
Soweit. So lang. So endlos lang. Regisseurin Anna Funk hat sich der Werktreue ergeben und erläßt dem Publikum auf den zunehmend unbequerem Bastsitzflächen keinen einzigen Knittelvers. Keinen einzigen. Nichts gegen die wirklich hübschen Regieeinfälle, wie ein mit brausender Orgel begleitetes “Prosit der Gemütlichkeit”. Oder die wirklich herrliche Ode an die Lebensfreue “Drunt in der greana Au”. Nein, weil Philipp Andriotis seine Leidenschaft durch Lieder zur Gitarre ausdrücken muss, darf er das in extenso tun. Und weil Lucia von Damnitz schön singen kann, darf sie. Ein kraftvoller Sopran, zweifellos, aber die Bastsitze drücken jetzt schon arg. Es ist auch sehr schön, dass die Jederfrau eine hübsche Singstimme hat. Aber es hätte kein Duett mehr gebraucht. Wenn ich Musiktheater gewollt hätte (will ich nie), wäre ich in eins gegangen (wäre ich nicht).
Man darf, man soll den Jedermann heute noch spielen. Unbedingt. Aber man muß ihn um seiner selbst Willen doch bitte bitte kürzen. Mutig streichen, bitte! Dann muss das Publikum sich nicht in der letzten Stunde so sehr in alle Richtungen strecken und versuchen, seine durch die vielen Schübe Trockeneis verstärkten Corona-untauglichen Gähnattacken irgendwie Corona-tauglich in Armbeugen zu versenken.
Ich möchte die Aufführung nicht missen, aber das nächste Mal will ich VORHER einen Rotstift.
Hin- und hergerissen
Ich betreibe nicht gerne Aufwand für meinen Außenauftritt. Folglich dauert es bei mir von der Erkenntnis “Auf meinem Kopf herrscht unkontrollierter Wildwuchs” bis zum Termin bei der Friseurin immer viel länger als bei anderen Menschen. Wobei ich mich zur Zeit frage, ob es vielleicht besser wäre, sich ranzuhalten. Nicht, dass ich dann im Frühjahr 2021 mit einer 2.-Welle-Herbst-und-Winter-Lockdown-Mähne dastehe. Andererseits: dafür wurden Haarspangen erfunden.
Meine Sorgen möchte ich haben…
Wake-up-Call
Fremd
Voralpenholzbalkone mit Voralpensaftigblühgeranien, grüne Weiden mit Glockenbimmelmuhkuhs, Vorzeigehimmelsspiegelseen, Kulissengebirge mit schneegepuderten Gipfeln. Kurz: so richtiges Plombenzieherbayernidyll.
So gewohnt es mir scheint, mit maskierten Menschen in der Stadt U-Bahn zu fahren und im Supermarkt unter Einhaltung der Abstandsregeln meine Lebensmittel zusammenzusammeln, so sehr irritierend sind da draußen auf dem Land Biergärten mit weiß-blauen Ein- und Ausgangsumleitungsschildern, Lederhosenträger, die Tische desinfizieren und eine Bedienung mit Tücherlmaske, die wirkt, als plane sie, demnächst die Postkutsche zu überfallen und nicht etwa, Schweinsbraten heranzuschleppen.
