Den Herrn von Hofmannsthal hätte es bestimmt gefreut, sein Mysterienspiel vom Sterben des reichen Mannes in einer Kirche zu sehen. Unter Corona-Bedingungen gleich gar. Statt der schweren alte Bänke stehen nun dort im Kirchenschiff links und rechts vor dem Altar mit Bast bezogene Stühle, beweglich, so dass “Virusgruppen” (früher: “Familien”) näher bei- und Fremde weiter auseinandersitzen können. Die Bühne ist ein mit rotem Stoff bezogener Catwalk, der ca. ein Drittel des Ganges von Altar zum Eingang einnimmt sowie Kanzel, Altar, Tabernakel, alles, was die Kirche so hergibt.
Den Jedermann spielt Ulrike Dostal im schwarz-weißen ansehnlich dekolletierten (einmal ganz knapp vor Nippelgate) Animalprintkleid mit Riemchenschuhen voll Verve und guter Stimme sowie viel auf den Boden werfen und grazil wieder aufrichten, changierend zwischen orginalem Hofmannsthalschem Knittelvers, zeitgenössischem Hochdeutsch und g’schertem Münchner Bayrisch. Ihre attraktive Buhlschaft ist der “Ich-bin-Künstler”-Dutt-Bart-Gitarre-Typ Philipp Andriotis (den sie im eilends hergestellten Programmflyer mit einem Extra-T zum Andriotits gemacht haben). Mikroport und Kirchenakustik sind seiner Verständlichkeit nicht zuträglich, das macht aber nichts, weil er mit einer solchen Wucht spielt, dass man statt der Stimme halt dem Körper zuhört und die Figur so vielleicht sogar noch besser versteht. Der Gesell der Jederfrau ist eine “beste Freundin” (Christine Kellerer), ein It-Girl der Münchner Society, die genau so bei Regine Sixts “Damenwies’n” und anderen “Hauptsache hübsch und gut gestyled”-Insta-Gesellschaftsereignissen anzutreffen ist. Amadeus Bodis gibt die “Dreifaltigkeit”, bestehend aus Gott, Tod (sehr beeindruckend, wie er den Jedermann von der höchsten Empore ausruft) und Teufel. Seit gestern weiß ich: der Teufel ist Radfahrer. Bleibt noch Mammon, der schwer symbolisch in einer goldenen Mülltonne vor den Altar gerollt wird, die guten Werke, verkörpert von Lucia von Damnitz und ihrem Sopran sowie der Glaube, den der Hausherr, Pfarrer Rainer Maria Schießler, mit sichtbarem Spaß und einer langen weißen Kutte über den Trecking-Shorts selbst gibt.
Das Spiel ist wie immer: die reiche Hedonistin lebt in Saus und Braus und hat für die vom Schicksal weniger Begünstigten nur Spott übrig, bis der Tod anklopft und alle die vermeintlichen Freunde aus guten Tagen sich von ihr abwenden. Keine/r will sie vors göttliche Gericht begleiten, nur die furchtbar schwachen guten Werke würden ihr zur Seite stehen, wenn sie könnten, und der Glaube. Jedermann tut Sühne, erwirkt Gnade und entkommt kurz vor knapp dem Teufel in die Arme eines gnädigen Gottes.
Soweit. So lang. So endlos lang. Regisseurin Anna Funk hat sich der Werktreue ergeben und erläßt dem Publikum auf den zunehmend unbequerem Bastsitzflächen keinen einzigen Knittelvers. Keinen einzigen. Nichts gegen die wirklich hübschen Regieeinfälle, wie ein mit brausender Orgel begleitetes “Prosit der Gemütlichkeit”. Oder die wirklich herrliche Ode an die Lebensfreue “Drunt in der greana Au”. Nein, weil Philipp Andriotis seine Leidenschaft durch Lieder zur Gitarre ausdrücken muss, darf er das in extenso tun. Und weil Lucia von Damnitz schön singen kann, darf sie. Ein kraftvoller Sopran, zweifellos, aber die Bastsitze drücken jetzt schon arg. Es ist auch sehr schön, dass die Jederfrau eine hübsche Singstimme hat. Aber es hätte kein Duett mehr gebraucht. Wenn ich Musiktheater gewollt hätte (will ich nie), wäre ich in eins gegangen (wäre ich nicht).
Man darf, man soll den Jedermann heute noch spielen. Unbedingt. Aber man muß ihn um seiner selbst Willen doch bitte bitte kürzen. Mutig streichen, bitte! Dann muss das Publikum sich nicht in der letzten Stunde so sehr in alle Richtungen strecken und versuchen, seine durch die vielen Schübe Trockeneis verstärkten Corona-untauglichen Gähnattacken irgendwie Corona-tauglich in Armbeugen zu versenken.
Ich möchte die Aufführung nicht missen, aber das nächste Mal will ich VORHER einen Rotstift.