Wie immer Ende Oktober mache ich mich auf den Weg, mit meinen Eltern ihre drei Tage auseinanderliegenden Geburtstage zu begehen, was, nachdem sie in diesem Jahr nach einigen SchlaganfÀllen und Herzinfarkten ihren Achtzigsten feiern, im wesentlichen darin besteht, Mamas Wunschzettel* abgearbeitet zu haben und anwesend zu sein.
Ich bin zum Mittagessen einbestellt und “gegessen wird um Viertel nach elf” und weil ich weiĂ, dass ZuspĂ€tkommen als Ausdruck mangelnder Kindesliebe gewertet wird, habe ich schon am Vortag aufgetankt und bin um 08:00 Uhr frĂŒh auf der Autohbahn. Obwohl wenig Verkehr ist, will kein rechter SpaĂ am Fahren aufkommen; der Himmel drĂŒckt schwer und naĂ, es ist neblig, grau und ÀhbĂ€; Scheinwerfer und Scheibenwischer im Dauereinsatz. Richtig greislig wird es auf der SchwĂ€bischen Alb, die paar ausgewaschenesfensterledengelben BlĂ€tter, die sich an den fast schon kahlen BĂ€umen festklammern, kann ich selbst mit allerbestem Willen nicht als fröhlich herbstliche Farbtupfer gelten lassen. Hinzukommt, dass Bayern 2 (ich hatte die handverlesene CD-Auswahl vergessen) eine Zweistundensondersendung ĂŒber den Tod bringt. Die ist dann aber so gut und interessant, dass es sich anfĂŒhlt, als habe man mindestens drei Wochenendfeuilletons + Seiten Zwei der SZ gelesen.
Dann bin ich da, gut zu frĂŒh (altes Familienleiden), dann essen wir, waschen ab und sitzen rum. Ich zeige die Bilder aus den Ferien in Schweden (“wir kommen ja nicht mehr zum Reisen”), erzĂ€hle in sehr lektorierten AuszĂŒgen aus meinem Alltag (“wir waren ja das letzte Mal im Kino, als “Vom Winde verweht” gezeigt wurde”), spielen ein Brettspiel mit Mama, dann ist es auch schon halb fĂŒnf und Zeit zum Abendessen. In der ganzen Zeit lief der Fernseher mit an geriatrisches Hörvermögen angepaĂter LautstĂ€rke und wird noch einmal lauter gestellt, als mit der Tagesschau das gemeinsame Abendprogramm beginnt. Nach dem Spielfilm ist der Abend zu Ende und wir gehen ins Bett. (Ich habe was zum Lesen mitgenommen und mache das Licht nach Mitternacht aus.)
Am nĂ€chsten Morgen haben wir alle schlecht geschlafen und die Suche nach dem Grund fĂŒhrt zur ersten von zwei lebhaften Diskussion. Schuld ist der Neumond, nein, die Zeitumstellung, ach Quatsch, der Erbseneintopf, weil ich sowieso immer nicht schlafen kann, wegen dem abschĂŒssigen GĂ€stebett, wegen der Marder drauĂen, wegen der Fliege drinnen, weil im GĂ€stezimmer noch Licht war, weil dein Vater schnarcht. Bei der anderen geht es um die jeweiligen Gesundheits-, nein KrankheitszustĂ€nde und wer wem was vererbt hat und dass sowohl mein Bruder wie ich “mit sowas viel frĂŒher dran” sind, als unsere Nachkriegs- und Aufbaugenerations-Eltern.
Dann trudeln die ersten Muttergeburtstagsgratulanten ein, Bruder, SchwĂ€gerin, Nichte mit Gatten und Tochter und das arme Kind wird vorgefĂŒhrt und soll der Omama ein StĂ€ndchen bringen (“des hemmer g’iebt”) und mag nicht und dann sitzen wir alle rum und haben einander auch in der groĂen Runde nicht viel zu erzĂ€hlen, auĂer, dass meine Mutter die Gelegenheit nutzt, darauf hinzuweisen, dass sie sehr glĂŒcklich ist, dass mein Bruder (im Gegensatz zu ihrem anderen Kind) vom Fernweh verschont geblieben ist und dann wĂŒnsche ich mir wie schon als Teenager, dass ich ein Adoptivkind wĂ€re. Bin ich aber nicht. Wir kommen aus demselben Genpool, haben dieselbe Körperhaltung, dieselbe Mimik, sind alle kurzsichtig und neigen zu Gelenkerkrankungen. Und wenn heute das Mittagessen vorbei ist, habe ich schon mehr als die HĂ€lfte meiner Anwesenheitspflicht erfĂŒllt.
Nachmittags schauen die wenigen noch lebenden bzw. mobilen Nachbarn sowie Nichte Nr. 2 mit Mann vorbei. Man erzĂ€hlt vom HĂ€uslebauen. Ein Lebensentwurf ohne Eigenheim und Partner stöĂt auf UnverstĂ€ndnis und bestenfalls Bedauern; in dieser Welt ist halt die Kehrwoche doch das MaĂ aller Dinge. Ich meine, Kupfer zu schmecken – blutet meine Zunge eigentlich schon? Wieviele Stunden noch? Wieviele davon schlafen?
Endlich darf ich heim. Die Fahrt wird mit zunehmender Distanz schöner; der Himmel blau, die Sonne strahlt, ein Indian Summer leuchtet um mich, ich muss diese Reise dieses Jahr nicht mehr machen und als ich mir dann an einer RaststĂ€tte noch einen Kaffee mit Geschmack und Koffein hole (“wir haben noch nie Kaffee aus so einem Pappbecher getrunken”) und auf einem BĂ€nkle ins Licht blinzle und weiĂ, dass mir immer noch ein freier Tag bleibt, fahre ich den Rest, ohne stĂ€ndig die Geschwindigkeitsbegrenzung zu ĂŒbertreten.
Der trotzige Vorsatz “Ich will nicht werden, was mein Alter ist” ist mit den Jahren der resignierten Erkenntnis gewichen, dass ich in den Spiegel schaue und meine Mutter sehe. Es sei denn, es fĂ€nde sich im NachlaĂ doch noch diese verdammte Adoptivurkunde.
* “Ein Schlemmerkorb, aber nicht mit den komischen Sachen, die du magst.”
Das liest sich ganz wunderbar, Sabine….
(not to be published…)