Gelesen: Christine Koschmieder – “Frühjahrskollektion”*

Eine arbeitslose junge Frau bekommt in den frühen Vierzigern des letzten Jahrhunderts eine Stelle “beim Amt” angeboten. Zwar in Polen, aber als Ausgleich Ost-Zuschläge. Ein junger Mann aus Zagreb sieht sehr gut aus, ist jedoch nur Kandidat in der “Wertungsgruppe”, doch wenn er sich anstellig und gehorsam zeigt, kann er zum Deutschen aufsteigen. Er zeigt sich anstellig und gehorsam. Zusammenarbeit, nützlich sein für die mit dem Eichenlaub am hohen Kragen, Kind, Hochzeit, Kriegsgefangenschaft, Flüchtlingskredit, viel Arbeit, bescheidener gesellschaftlicher Aufstieg in der Nachkriegszeit. Einfache hart arbeitende strebsame Menschen, die vor allem ihren Anteil am Wirtschaftswunder wollen (weil ihnen das nach den schrecklichen Kriegs- und Nachkriegsjahren ja wohl auch zusteht) und dass ihr Kind es einmal besser hat.

Sechziger Jahre. Auch die Mode ist freier geworden, Koschmieder zeigt sehr raffiniert, wie. Die viele Arbeit hat sich gelohnt, das Paar ist eben in den neu gebauten Hoesch-Bungalow** eingezogen, die Grube für den nierenförmigen Swimming-Pool bereits ausgehoben. Es kann eigentlich nur noch weiter aufwärts gehen. Dann holt die Geschichte sie ein. Wie genau, möge eine jede und ein jeder selbst lesen. Es lohnt. Die dumpfe Atmosphäre der Sechziger Jahre, eine Bevölkerung, die nichts mehr wissen will von der “dunklen Zeit”. Ein Volk, das im hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den Begriff “Auschwitz” überhaupt erst in den Nachkriegs-Wortschatz einfügt, einen Nestbeschmutzer sieht – Koschmieder navigiert mit großer Meisterschaft durch dieses Jahre. Sie hält ihre Leserschaft nah bei ihren Figuren, die sie bei allem Fehlverhalten nie verrät. Einfache Leute, die sich selbst am nächsten sind. Es steht keinem zu, den ersten Stein zu werfen.

Das Buch ist, nach ein paar wenigen Druckschlampereien auf den ersten Seiten, sehr sehr hübsch besorgt, sogar der Umschlag ist in mini. Sowas kriegt selbst der beste E-Reader nicht hin. Leider ist kein Index dabei. Ich habe Zeit, ich kann Begriffe wie “131er”, “Panzer-Meyer”, HIAG usw. nachschlagen und habe es auch getan. Anderen würde eine Handreichung sicher helfen.

Lesen! Lesen! Lesen! (Mein Exemplar kann ausgeliehen werden.)

* Ich weiß es noch: Auf einer längeren Autofahrt übertrug der Deutschlandfunk die Lesungen für den Bachmann-Preis 2024, der gelesene Ausschnitt war extrem spannend und deshalb habe ich mir das Buch vorgemerkt.

** Hoesch-Bungalow, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Hoesch-Bungalow

Gelesen: Karin Peschka – “Dschomba”

Ein ganz ein außergewöhnliches Buch, huiuiui. Und dieses Mal weiß ich, woher die Empfehlung kommt, nämlich von österreichischen Lesern der SZ, die nach ihren Sommerempfehlungen gefragt wurden.

Peschka erzählt in einer kunstvoll reduzierten und dadurch erst recht ausdrucksstarken Sprache von einer österreichischen Kleinstadt und deren unheilvolle Verstrickung in beide Weltkriege. Von den fruchtbaren Äckern und Feldern, die im ersten schon in ein Kriegsgefangenenlager umgemünzt wurden, danach wurde wieder Frucht angebaut. Bis auch im nachfolgenden Krieg wieder ein Lager entstand. dessen Gelände jetzt längst wieder landwirtschaftlich genutzt wird. Geblieben ist aus den schlimmen Zeiten nun, im Jahre 1954, als das Buch beginnt, nur der Friedhof. Übervoll mit Toten aus beiden Kriegen.

Peschka erzählt in diesem sehr ergreifenden atmosphärisch dichten und wahrhaftigen Buch aus der Perspektive der jüngsten Tochter einer Wirtsfamilie, einem verträumten, oft nicht ganz anwesenden Kind mit viel Phantasie, das in Keller und Speicher Grusel fühlt und offen ist für die Geschichten der verschwiegenen toten Soldaten und der suchenden Pilgerfahrt des Herrn Džomba. Geschrieben in einer ganz eigenen Klangfarbe, auf die man sich als Lesender einlassen wollen muss. Ich war zeitweise ganz atemlos vor Begeisterung.

Es ist dies keine leichte Lektüre und sie braucht ihre Zeit. Wer diese Zeit geben will, wird reich belohnt werden. Lesen! Lesen! Lesen!

Neu auf Netflix: “The Thursday Murder Club”

Der Film entspricht voll umfänglich den in ihn gesetzten Erwartungen. Das meine ich im Wortsinne und nicht mit abwertender Konnotation – er ist ganz genau so, wie ich in mir vorgestellt habe.

In England’s greenest hills, im englischen Traumsommer spielt eine englische Traumbesetzung englische Traumrollen. Helen Mirren, die Königin (sehr netter Drehbuchgag, das!) und brillante Ex-Agentin, Ben Kingsley ein weiser alter Gentleman, Pierce Brosnan ein rumpeliger Ex-Gewerkschaftler, Celia Imrie, die Great-British-Bake-Off-dauerunterschätzte Witwe, der wunderbare Jonathan Pryce, ein alter Autor mit beginnender Demenz, zwischen leuchtend luziden Momenten und dunkler Orientierungslosigkeit oszillierend, der herrliche David Tennant den dauerüber- und durchgedrehten Bösewicht, Daniel Mays, Vorgesetzter und Depp und Naomi Ackie, gescheit, schwarz, weiblich das Odd Police Couple und last but not least Henry Lloyd-Hughes, ein schuldlos-schuldiger Ausländer mit dunkler Vergangenheit.

Sehr nett geraten. Sehr “cozy”, wie der neue Modebegriff für diese Literatur-/Filmgattung heißt. Regisseur Chris Columbus hat Richard Osmans Romanvorlage (s. https://flockblog.de/?p=50225) treulich und liebenswert umgesetzt, man darf sich auch auf die (bestimmt) noch kommenden Verfilmungen freuen. Leider sind Alan Rickman und Maggie Smith wegen Ablebens nicht mehr verfügbar, aber ich bin sicher, dass dem Publikum andere Größen präsentiert werden werden.

Nicht dringend, aber ideal, um an einem kühleren Herbstabend mit prasselndem Kaminfeuer anzuschauen.

Isch over

“Ja”, sagt die Freundin, in deren Garten ich diese Woche zu einem sommerlichen Picknick-Lunch geladen bin, “das wird er jetzt wohl gewesen sein, der letzte Sommertag.” Wir genießen ihn auch vorbildlich, aber ich möchte anmerken, dass nach einer solch miesen Performance (26 Regentage im Juli, ich bin immer noch nicht ganz drüber, wenn ich es denn je sein können werde) der Herbst sehr viel gutzumachen haben wird.

Zur Philosophie des Nichts*

Kann etwas, das es nie gab, nicht gibt, nie geben wird, eigentlich unvollständig sein? Ich frage für den Sommer 2025 und möchte lösen: Ja, geht. Wie? Nun…

Nun. Printmedien haben traditionell in der heißen Jahreszeit, unabhängig davon, ob es im Juli überhaupt einen Sommer gibt oder nicht (26 Regentage, halloho), ein Loch zu füllen. Und weil noch mehr Berichte über das erratische Verhalten alter Männer eher dazu führen, dass die wenigen noch unterhaltenen Abonnements auch noch gekündigt werden, gilt es, eine neue Sensation zu finden. Was liegt da näher als die gemeine Nacktschnecke als Reportagenheldin? Nein, ich habe das nicht erfunden. Hier:

Die zur Rettung vor den Terrorschleimern gerufenen Freunde und Helfer halten sich ebenfalls an die ungeschriebenen Sommerlochregeln und dokumentieren den erfolgreichen Einsatz mit einem besonders originellen Bericht: “Nachdem die Nacktschnecke durch die Polizeibeamten zur Schnecke gemacht, über die Reviergrenzen belehrt und auf eine angrenzende Wiese verbracht wurde, konnten die Anwohner ihre Nachtruhe endlich fortsetzen.

Mission accomplished. Loch zu. Abonnentenzahl stabil.

* Nachfolgend der schönste aller Loch-Texte mit großem Dank an Peter Panter (Kurt Tucholsky, 1928), ganz arg schön vorgelesen von Jürgen von der Lippe:

“Morgens um 7 ist die Welt noch in Ordnung”…

…war vor sehr vielen Jahren der Titel eines Bertelsmann-Buchclub-Vorschlagsbands (fragt Oma), mit dem ich als Leseanfängerin einen meiner ersten selbständigen Ausflüge in die Welt der, ich nenne es einmal wohlmeinend, Literatur unternahm.

Kann nunmehr empirisch bestätigen, dass die Aussage nicht der Wahrheit entspricht. Es werden hier unten im Innenhof nämlich nicht nur Bäume beschnitten, sondern auch die Dachgartenwohnung direkt gegenüber kernrenoviert. Und zwar ab halb sieben, soviel Handwerkerehre muss sein.

Ich arbeite noch an einem Fluch, aber er wird ganz sicher nässende Juckfurunkel an schlecht erreichbaren Körperstellen enthalten. Und Zahnschmerzen, so wie mein Lieblingsfluch aus dem Jiddischen: “Alle Zähne sollen dir ausfallen. Nur einer soll bleiben – für Zahnweh.” Ja, richtig. Ich bin unausgeschlafen und ganz und gar not amused.

“Früh buchen heißt Meer vorfreuen”…

…steht auf dem großen Werbeplakat in der S-Bahn-Station.

Nun gut, dann kann ich mir die Wartezeit auf den Zug damit verkürzen, bei diesen Leuten einen hohen Betrag für die Schlechte-Wortspiel-Kasse einzufordern.

Na? Geld her, ihr Sprachverderber.

Nostalgie-Kino: “Ninotchka”, 1939

Nochmal Lubitsch, nochmal ein Grund, sich vor dem großen Meister zu verbeugen. Der Inhalt in drei Sätzen: Die russische Revolution war finanziell kein Erfolg und man schickt Funktionäre in die Welt, das zaristische Tafelsilber (nunmehr “Eigentum des Volkes”) meistbietend zu verscherbeln. Die drei nach Paris geschickten Apparatschiks erliegen den Verführungen des Kapitalismus und sollen nunmehr von einer nachgesandten extrem linientreuen Sonderbeauftragten (Greta Garbo) zur Räson gebracht werden. Geht schief.

Liebenswert und so gekonnt luftig-leicht augenzwinkernd komisch und die Weltlage, in der der Film veröffentlicht wird, so ganz anders und so furchtbar, dass Lubitsch die Opening Credits mit diesem Disclaimer schließt:

Anschauen! Anschauen! Anschauen!