Home sweet Home

Der Abschied von Therapeutinnen und Pfleger/innen gestern war herzzereißend. Selbst wenn ein Gutteil des Mitfreuens über den schnellen Heilerfolg dem professionellen Stolz geschuldet gewesen sein mag, aber daß fast jede/r nochmal rasch vorbeikam, um mich beim Auszug zu herzen und zu drücken, das war schon rührend. Ich bade ohnehin in einem Meer von Zuwendung: kaum war ich mit viel Ächzen und Stöhnen ins Auto ein-, war ich auch gleich wieder ausgestiegen, denn Toni und ich waren zum Mittagessen im Restaurant ums Eck. Richtiges Essen, mit Geschmack. Und weil alles gerade so gut lief,  anschließend beim Grocery Shopping. Toni ist stolz darauf, weder für Wehr- noch Zivildienst eingezogen gewesen worden zu sein, aber wie bei allem im Leben, rächt sich sowas… Ich finde ja, er ist als Zivi geradezu begnadet. Wagerle ans Auto stellen, Zeug hinterherschleppen, sich im Supermarkt nach Sachen bücken oder strecken, Teele kochen – you name it, er tut’s. Ich habe keine Ahnung, wie ich das je wieder gut machen kann.

Kaum daheim, mußte ich erst mal ein Schläfchen machen und als ich erquickt – nach zweieinhalb Stunden – zurückkehrte, bei den Nachbarn angeben und vorhinken, was ich schon alles kann. Worauf Carmen die extra-große Backform zückte und uns mit Lasagne bekochte und für mich noch einen schnellen Zäsarensalat zusammenschnibbelte, mit Croutons und Dressing extra, damit alles schön knackig bleibt. Wir treffen uns jetzt täglich auf ein check-in Schwätzle, man weiß ja nie und wenn ich mich nicht binnen 5 Minuten auf eine SMS rühre, steht sie da. Abendessen, Heute-Show und dann war für mich schon wieder Bettzeit, während Toni, der Allerguteste, an meinem Rechner die mal wieder längst fällige Maintenance übernahm. Wie gesagt, keine Ahnung, wie ich das je wieder gut machen kann.

Das war vielleicht eine Nacht! Eine meiner besten: keine Dämonen, kein Gefiepe, kein Schnarchen (wobei Toni angeboten hatte, das zu übernehmen, wenn Bedarf besteht), kein Rumgerenne auf dem Gang und niemand, der mich um 2:30 Uhr früh weckt, um meine “vitals” zu überprüfen. Blutdruckmanschette, Klipper auf dem Finger und Thermometer in den Schnabel und sich dann wundern, wenn der Blutdruck sehr tief und der Puls eher langsam ist. Aber immerhin war sichergestellt, daß ich damit immer pünktlich um halb vier mit dem Texas Ranger* bei den Nightwalkers mitschob.

Nein, ich habe viele Stunden geschlafen und dann meine ersten Spaziergänge unternommen. Bis zum ersten, zweiten, dritten Straßenreinigungsparkverbotschild. Bis ganz ans Ende der Straße und dann bis vor zur Angus und wieder zurück. Und meine Perimeter stetig erweitert. Heute Nachmittag dann schon mit Begleitung ganze vier Blocks marschiert – es wird zunehmend besser.

Ich bin total begeistert! Ich bin dem Genesungsplan eine gute Woche voraus und kann schon fast alles wieder alleine, wahrscheinlich sogar duschen, weil Toni heute mit einer Engelsgeduld in einem viel zu kleinen Badezimmer eine Duschbank für mich installiert hat. Sogar Wäschewaschen geht, wenn ich die Maschine mit dem Greifer be- und entlade und mir wer den Wäschekorb (Danke, Toni!) nach draußen trägt – aufhängen gildet schon wieder als Geh- und Stretchtraining. Ebenso abhängen, für den Rest engagiere ich Korbträger.

Morgen kommt ein Kollege mit seiner Tochter vorbei und sie haben frische leckere Lebensmittel vom Farmers Market angekündigt. Seit ich heute nun die Vertragsverhandlungen abgeschlossen habe, geht am Montag “Home Care” los, da kommen Physio/Ergo-Therapeut ins Haus und turnen mit mir, was ich alleine nicht turnen kann. Abends kommt ein anderer Kollege und bringt Essen – seine Frau kocht saumäßig gut und findet, daß jeder Mensch wenigstens eine wohlschmeckende indische Mahlzeit pro Tag essen sollte.

Für Dienstag hat sich die liebe Frau eines weiteren Kollegen angesagt, “to walk with you, chat with you, and make sure you’re well fed”** und am Mittwoch gehe ich ins Krankenhaus, damit der Doc seine Naht bewundern und die Klammern rausziehen kann. Dafür, daß ich krank zu Hause bin, ist richtig schön viel los. Wer mich auf skype sieht, klingle durch – ich freue mich über Gesellschaft! The more the merrier.

* So haben wir heute den Walker genannt. Meine Oxys machen so dermaßen saualbern. Oder ich war schon immer so. Weiß nicht. Krönung schräger Wortschöpfungen ist bis dato die “Bohnensäge”. (Im Englischen ein durchaus sinnvolles Wort: “bone-saw”. Im Denglischen einfach nur gut für einen mehrminütigen Kicheranfall, auch mehrfach. Carmencita, hast du vielleicht in die Lasagne noch was anderes gerührt als Nudeln, Tomaten und Hackfleisch?)

** Ganz fest im amerikanischen Denken verankert ist die heilende Wirkung von “Dishes”. Fertig zubereitete “homemade” Mahlzeiten in einer netten Portion auf einem Teller, den man zum Aufwärmen nur noch in die Mikrowelle schiebt.

Noch einmal aufstehen

Man möchte nicht glauben, wie aufwendig Check-out ist, ich hatte jedenfalls den ganzen Vormittag zu tun. Erstens: Unter Aufsicht duschen, nicht, daß ich das daheim dann falsch mache. Da steht in jedem Post-OP-Ratgeber, man möge den Badewannenboden mit Antirutsch-Dingern pflastern – bloß: hier gibts keine und sie legen die Fliesen mit alten Handtüchern aus. Trotz Hindernissen war ich so schnell quietschesauber, daß noch eine halbe Stunde Spaziergang drin war. Mit Whale Watching* und das Ein- und Aussteigen in ein Auto wiederholen. Nächste Stunde: Am Stock gehen. An einem alten schweren Stock ohne gescheite Federung und mit scheuerndem Kunststoffgriff. Meiner daheim wiegt nix, ist superstoßgedämpft und der Griff ist mit Schaumgummi bezogen – ein echter “HurryCane”. So ein Schwachsinn – man sollte doch meinen, daß der Sinn von Rehabilitation darin besteht, die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern und nicht mit extraaltem Equipment zu erschweren. Obwohl, möglicherweise ist der Test, hier unter erschwerten Bedinungen den aufrechten Stand zu wahren. (Was nicht umbringt und so…) Die Therapeutin war dazu überfragt. Für hier und heute habe ich eh austherapiert.

Nun im Meeting mit einem Team aus Discharge Manager, Case Manager, Head Nurse und Florinda von General Administration den “schedule” für morgen diskutieren. Ja, meine Medikamente werde man mir mitgeben, damit ich nicht gleich zur Apotheke zu rennen brauche; nach drei Anläufen war die Liste denn auch komplett. Zwei Therapiestunden in der Frühe kann ich auch noch bekommen (habe mir schon eine Stunde Herumalbern mit dem Wii gewünscht), aber… Was aber? Also, wenn ich nochmal Mittagessen will und länger als bis High Noon bleibe, dann müssen sie mir nochmal einen vollen Tag berechnen. Nochmal langsam: ihr erklärt gerade einer Schwäbin, daß einmal auf diesen Drecksfraß zu verzichten ihr ein paar hundert Dollar spart? Hmm, da muß ich jetzt aber wirklich nachdenken. Nein, muß ich nicht: “You got it, ladies. No lunch for Sabine tomorrow. I’ll be gone by noon.” Den Spezialrollstuhltransporter müsse man ebenfalls extra…, nein, müßt ihr nicht. Ich kann schon in einem ganz normalen Auto mitfahren (siehe oben). Ja, und dann die große Frage, ob mein Mann denn morgen schon so früh aus der Arbeit wegkönne. Weiß ich nicht, wir sind seit über 20 Jahren geschieden – aber Toni kann und will und wird. Und ja, zuverlässig ist er auch. Sehr.

Mittagessen: Wärmehaube auf, nasebeleidigenden Duftschwall inhaliert und nach Inaugenscheinnahme einfach Deckel wieder drauf. Ich trinke mein warmes Diet Coke, werfe ein Double-Whammy Oxycodon ein und verschenke den Nachtisch “Blushing Pears” = Dosenbirnen mit Päcklespuderparmesan an meine Zimmernachbarin. Mittagessen Ende. Anschließend plane ich mich in Oxys Armen bei einem Mittagsschläfchen von den vormittäglichen Anstrengungen zu erholen. Meine reizende Zimmernachbarin hat in meiner mehrstündigen Abwesenheit den Lautstärkeregler ihres Fernsehers frech auf immer noch lauter gedreht und Alexandras Baby schreit den ganzen Flur zusammen. Dann wird es für sein hübsches Kleidchen und die schönen Löckchen gelobt und bedankt sich artig. Halt, Moment, das paßt nicht. Zum richtig schlafen ist es viel zu laut und beim Halbertdösen erschließe ich mir, daß das Gebrüll wohl eine Rückblende war. Das Kind ist inzwischen bei Jezebel gelandet, von der ich, ohne sie je gesehen zu haben, weiß, daß sie ausschließlich und zu jeder Tages- und Nachtzeit Paloma-Picasso-Farben trägt (Rouge et Noir), viel Gold, Make-up und große Sonnenbrillen, man hört schon an der Stimme, daß sie eine Böse ist und so einen Namen geben einem die Drehbuchautoren ja auch nicht von ungefähr. Jezebel intrigriert und spielt jeden gegen jeden aus – bevor ich den Mittagsschlaf endgültig aufgebe und mir wieder mit Kopfhörern meinen eigenen Lärm in die Ohren blase, bekommt das Balg ungeplant und sehr zu Jezebels Mißvergnügen die Masern und sie verspätet sich zum entscheidenden konspirativen Treffen. Das Schicksal (und der Name) von Alexandras Baby wird wohl auf dem Haufen der ungelösten Fragen in meinem Leben landen.**

Eine treue deutsche Leserin hat meine letzten ewiglangen*** blogposts mit “so schlecht kann’s ihr gar nicht gehen, so wie sie übers Essen schimpft” kommentiert. Das stimmt, und dafür, daß mir amerikanisches Essen weder in der Variante ungewürzt aber dafür püriert, noch in der Standardzubereitung (viel, aber nicht gut) nicht schmeckt, kann die Küche des Pacifcarehab Center http://www.pacificarehab.com/ nichts.  (Man beachte die geniale Aneinanderreihung sinnhafter Worte – das hätte mit San Bruno nicht geklappt.) Für meine Genesung haben sie hier ungeheuer viel getan, ich bin aktuell dem üblichen Verlauf ca. eine gute Woche voraus. Was die Pfleger/innen hier stemmen, ist bewundernswert – die Personaldecke ist zwar dichter als in vielen anderen Einrichtungen, aber natürlich langts nie. Trotzdem habe ich nicht ein einziges Mal einen ungeduldigen oder unfreundlichen Ton gehört und ich bewundere eine/n jede/n für den liebe- und respektvollen Umgang mit alten Menschen, denen Hirn und Körper dahinschwinden. Es ist bestimmt gut gemeint, den ehemaligen Architekten in der Ergo-Therapie in diesem quenglenden Kleiner-Prinz-Ton dazu aufzufordern “Bitte, zeichne mir ein Haus”. Der Mann schaut dann aus ungeheuer traurigen Augen von der Zeitung hoch, die man ihm morgens aufgeschlagen in die Hand gesteckt hat und dann wackelt er mit dem Kopf. Das Magazin ist am nächsten Tag eine Seite weitergeblättert und er ist immer noch aphasisch und mag kein Haus zeichnen. Ich weiß nicht, ob warm, trocken und schmerzfrei gehalten zu werden die Bezeichnung “Leben” verdient und ob er sich das gewünscht hat/hätte. Die Dämonenfrau wird morgens aus dem Bett geholt, in eine frische Windel und ein trockenes “gown” gesteckt und für den Rest des Tages in ihrem Rollstuhl dazugestellt, wo sich mehrere Menschen Personal aufhalten. Sie heult alle paar Minuten tageszeitenunabhängig in Klang und Tragweite eines geflügelten Wolfs auf. Nur wenn sie in ihre Windel kackt, knurrt sie. Auch sie wird warm, satt, sauber und trocken gehalten und nicht irgendwo im Hinterzimmer versteckt. Dennoch, will man so vegetieren? Manche alten Männer verbringen den ganzen Tag im Bett und starren in den Fernseher**** – außer bei gelegentlichen Therapieeinheiten, deren Dauer von der Qualität ihrer Krankenversicherung abhängt. Wenn man den Therapeuten glauben darf, lungern gelegentlich Versicherungsdetektive im und ums Gebäude herum – sobald nämlich einer einen gewissen Fortschritt erreicht hat, wird er in die “Selbständigkeit” entlassen. Bei vielen führt das direkt zum Pappkarton auf dem Heizungsschacht. Das heißt, die Therapeuten müssen auf den Erhalt des Status quo behandeln, wenn sie ihre Patienten schützen wollen – und nicht auf Besserung.

In diesem Haufen schuffelnder kopfhängender trauriger Geschöpfe fällt dann ein Exot wie die Dame heute früh doppelt auf. Zwar in Trainingsklamotten, aber mit Stil gekleidet, Haarband, ein bißchen Make-up und voller Antrieb, hier wieder rauszukommen – “I used to be a prima ballerina in the Austin Opera House – still can’t believe I wracked my knee”. Und dann reckt und streckt sie sich an den Stangen vor dem Spiegel, daß man “Standing Ovations” geben möchte. Kann nur keiner aufstehen, so schnell. Derweilen werden andere auf die Trainingsräder plaziert, ein Gown richtig-, eines falschrum und ein Handtuch über die Körpermitte – dann sind schon mal 10 von 35 Therapieminuten um und sie dürfen endlich lostreten. Warum gibt man denen nicht simple Baumwollturnhosen und Hemdchen? Dauert auch nicht länger zum Anziehen, wäre aber so viel sinniger – und würdiger. Von Würde möchte ich gar nicht erst wieder anfangen, das ist ein viel zu weites Feld.

Kann aber jedem nur ans Herz legen, so eine Woche zu verbringen, wo man allen Varianten von Lebensende ausgesetzt ist – und selbst drauf angewiesen, daß einem einer vom Klo hochhilft oder aus dem Bett, weil das Bein noch nicht wieder Kraft dafür hat. Ich bin privilegiert. Ich gehe hier wieder weg. Aber: Ich werde mir daheim meine Patientenverfügung noch einmal ganz genau ansehen und ich hoffe, daß die bloße Masse unserer Babyboomer-Generation dafür sorgt, daß Gesetzesänderungen für unterstütztes oder selbständiges Sterben beschleunigt werden und der Zugang zu entsprechender Medikation liberalisiert. Freitod ist einer vegetabilen Existenz allemal vorzuziehen.

 

* Gerade ist Algenblüte und jeden Tag ziehen mehrere Walschulen am Horizont vorbei. Manchmal wirft sich einer auf die Seite und fächelt die Leckereien mit den großen Flossen an die Oberfläche und dann lassen sich Pelikan- und Möwenschwärme wie Steine ins Wasser fallen. Reha am Meer ist großartig!

** Kaum schreibt man vier Stunden blogpost, gibt Jezebel in einer stürmischen Nacht auf einer Klippe dem Rollstuhl mit Alexandras Baby drin einen kräftigen Schubs. Mit diesem Cliff Hanger (hihi, Wortspiel) ist dann für heute erst mal Schluß.

*** Hey, not my fault. Oxycodon macht geschwätzig. Ich hätte allerdings vorher auch nicht vermutet, daß ich über meine hiesigen sehr langweiligen Tage soviel zu erzählen haben würde.

**** Mein neuer Freund Bellamy, 86: “I used to ride my truck from coast to coast. Now I lay in bed, watch TV and wait for death to keep his appointment. You know what, girl? Guy’s bloody late.”

Konflikt

Heute ist “Special Early Mother’s Day Celebration”, der Stab hat den halben Tag den Dining Room mütterlich dekoriert (verstaubte Plastik- und Papierblumengirlanden in Puderrosa und Lavendellila und batteriebetriebene gackerlgelbe Kopfwehduftlichter). Vor einer halben Stunde zog ein Rollstuhlkaravan in den Dining Room ein und seitdem dudelt Glenn Miller mit der gesamten Big Band in Originallautstärke durch den Flur. Eben hat ein Herr auffordernd zu mir hereingewunken; weiße Hosen, rotgestreiftes Hemd und Kreissägenstrohhut und die unverkennbaren Mission im Gesicht, alte Witze zu erzählen. Bin hin- und hergerissen: Müßte ich da jetzt eigentlich nicht teilnehmen, um vom zu erwartenden Grauen als direkte Augen- und (halbtaube) Ohrenzeugin zu berichten?

Quatsch, muß ich nicht. Selbstschutz ist ein wesentlich höheres Gut!

Vorhin, auf dem Parkplatz von Taco Bell

Dem Typen vom Taco-Bell-Take-Out-Schalter suppt eine riesige Tüte voller Burritos durch und die ganze Bescherung landet auf dem Boden. Exakt da, wo keine halbe Minute später Juan Pérez seinen Klaubauf zurücksetzt und einmal mit dem extrabreiten Hinterreifen und dann noch mal mit dem extrabreiten Vorderreifen den Beutel vollends erledigt. Da stehen sie nun und gucken dumm. Und jetzt? Das ziehen die uns doch vom Gehalt ab. Nix da, Juan ist ein Käpsele, lädt noch eine Extraladung Twice Cooked Beans und Grünbatz (enthält alles außer Avocados) auf den Truck dazu und liefert aus. An Chef Chanelle. Wer Rippchen aus Hackfleisch macht, der macht auch Gute-Nacht-Burritos für Senioren aus Roadkill. Aber Bohnen dazu? Mußte das sein?

Ich wünsche ihr, daß sie die nächste Bohnenfolgennacht hier im Vierbettzimmer mit einer Gehbehinderung ans Bett gefesselt verbringen möge. Und zwar in einer Nacht wie dieser, wo die Spätschicht ausschließlich von Immigranten besetzt ist, die sich mit einem Zweit- oder gar Drittjob über Wasser halten. Spaß soll sie keinen haben, diese Lebensmittelquälerin.

Lil’ “Baby Sunshine”

Alexandras Baby scheint schwer traumatisiert, ißt nicht gescheit und weint viel. Nach drei Folgen Kindergeplärr mit dramatischen Streichern hat selbst die gutmütige Tante genug und legt ein Gelübde ab: nur noch dem Kindeswohl will sie sich widmen und nicht mehr länger ihrer sündhaften Liebe zu einem verheirateten Mann.

Der ist dagegen.

Verbrechen am Lebensmittel

Heute sollte es zu Mittag Schweinerippchen in Barbecue-Soße geben. Das kann richtig gut schmecken. Aber doch nicht, wenn man man rippenähnliche Stückchen aus Hackfleisch formt und unter die übliche dicke braune Ekelsauce ein paar Eßlöffel BBQ-Soße hebt.

Ich bin noch nicht reif für Mahlzeiten à la Greis. Noch zweimal schlecht schlafen, noch zwei mal aufstehen…

Zahlt isch zahlt!

Vorhin kam wieder mal ein Case Manager vorbei. Es liege ihr auf der Seele, mir zu versprechen, daß man alles tun werde, daß ich zum Muttertag wieder daheim bin, sagt sie. Sage ich, daß sich das gut trifft, da ich nämlich plane, mich am Freitag zu entlassen und gestern mit Thomas Allandale Rocas dem Dritten bereits besprochen habe, daß er mir heute ein Angebot für Home Care schickt, beginnend am Montag. Es war nicht uninteressant zu sehen, wie die Dollarzeichen in ihren Augen zu kleine Aschehäufchen zusammenfielen. Dann ein kurzes Aufbäumen – sie wisse aber noch nicht, ob der hiesige Arzt mir so schnell Discharge-Approval geben könne, vielleicht doch eher so Mitte nächster Woche. Hmmm, sage ich darauf, meine Therapeuten sind mit dem Heilerfolg extrem zufrieden, den Arzt habe ich noch nie getroffen und übrigens, ich zahle selbst. Bin weder mit Versicherungskonditionen noch anderem Kleinverwaltungsrumgetue erpreßbar. Das, findet sie auch, sind schlagende Argumente, denen stehe sie sehr offen gegenüber – sie werde dann mal alles für Freitag in die Wege leiten.

Ehrlich, da macht Kapitalismus auf a mal richtig Spaß. (Sag Heini zu mir: http://www.youtube.com/watch?v=LdQyQLs2THM)

Und heute quälen wir… Willie Nelson

Eine “Best-of”-Auswahl läuft seit dem frühen Morgen in Endlosschleife und ich will nicht mehr, nie nie mehr wissen, was mit all den Girls passiert, die er mal geliebt hat. Mir scheißegal. Halt die Schnauze, Willie!

Es wird nicht besser, wenn nebenher eine philippinische Telenovela schmettert. Da ist es allerdings inzwischen wirklich spannend. Als ich hier ankam, hatte Alexandra gerade erfahren, daß sie schwanger ist und aus irgendwelchen mir nicht erschließbaren Gründen, mußte sie Frieden mit ihrer lange verschollenen Schwester schließen, damit diese das Kindlein an ihrer Statt aufziehe. Der ganze Flur lag die letzten beiden Tage mit Alexandra in den Wehen und ernste ältere Herren mit tiefen guturalen Stimmen führten ernste Ältereherrengespräche, während Alexandra im Hintergrund brüllte, hechelte, stoßatmete und sehr leiden mußte. Endlich gestern krähte ein Neugeborenes in die Welt. Seitdem sind die alten Herren weg und ich fürchte, um Alexandra steht es auch nicht gut.

Ich glaube inzwischen, daß die Dame, die alle paar Minuten aufheult wie Timmy in South Park, nicht mit ihren Dämonen kämpft, sondern den Telenovelaschwachsinn zu nah an sich ranläßt.

“Action today on the 2nd Floor”

Als Literaturwissenschaftlerin könnte ich mich zur Zeit in Rekonvaleszenzreferenzen suhlen… Mal sehen, was mir so alles einfällt. Für den Zauberberg ist es direkt am Ozean zu flach und in einer Matratzengruft leidend zu verwesen ist auch nicht mein “spiel” – ganz im Gegenteil, für die langsameren unter den Schwestern bin ich schon viel zu schnell. Mit dem Effekt, daß heute die halbe Verwaltung aufmarschiert ist, um mir zu erklären, daß sie für mich “liable” seien und ich mich doch bitte für kleine Spaziergänge außerhalb des Geländes ordnungsgemäß abzumelden habe. Die Pragmatikerin aus der Buchhaltung kam drei Minuten später mit der Rechnung bis einschließlich Freitag und einem mobilen Kreditkartenlesegerät an. Sie sind jetzt zwar immer noch “liable”, bleiben aber nicht auf den Kosten sitzen, wenn’s mich wo auf die Schnauze haut.

Ich denke allerdings, daß ihr nicht ganz klar ist, daß sie sich vor lauter Geld schnell retten um mehr gebracht haben dürfte. Eigentlich sollte ich zunächst bis Samstag bleiben und aller Voraussicht nach gegen Mitte bis spätestens Ende der folgenden Woche entlassen werden. Nun hat sie meinen schwäbischen Ehrgeiz (“zahlt isch zahlt”) angestachelt, wäre doch gelacht, wenn ich nicht bis Freitag fit genug wäre, um die Anstalt zu verlassen. Anstalt? Ja. Das ist hier eine Einrichtung für die kurz- bis mittelfristige Pflege von Greisen, dem einen oder anderen Schlaganfallbetroffenen oder – ausnahmsweise – Reha nach Gelenkaustauschaktionen. Aktuell bin ich die einzige derartige Patientin und das Anstaltsnesthäkchen. Drum fällt es natürlich auf, daß meine Genesung so ungeheuer schnell verläuft und ich frischoperiert zu mehr imstande bin, als andere Insassen hier nach Wochen. Meine OT kann mir, sagt sie, eigentlich nix mehr Neues beibringen – 99% der Patienten seien zum Entlassungszeitpunkt noch nicht auf dem Level, auf dem ich schon bin und statt zu turnen, hat sie mich heute auf einen richtigen Kaffee aus richtigen gerösteten Bohnen in einem richtigen Coffeeshop nach einem richtigen “walk in the sunshine” eingeladen. Dafür muß ich nicht zahlender Gast sein, für solche Sperenzkerlen sind Carmen und ich eh schon auf nächste Woche verabredet.

Meine greise Nachbarin im Zweibettzimmer, die am besten schläft, wenn sie gegen den viel zu lauten Fernseher anschnarcht und gerne ihre favorisierte Krankenschwester direkt herbeijammert, statt diskret auf einen Knopf zu drücken, um sich dann bei Hellstbeleuchtung von mehreren Personen aus dem Bett in den Rollstuhl und dann aufs Klo und zurückhieven zu lassen, ist jetzt auch nicht ganz direkt dem Heilungserfolg zuträglich. Sie ist stolze Mutter von sechs Töchtern und drei Söhnen, die Zahl der Enkel und Urenkel ist volatil. Natürlich kommen die Lieben jeden Tag ab Frühnachmittag zu Besuch und dann schnattern sie. Mit Mama, Oma, am Telefon, untereinander, den Schwestern, anderem Personal und Patienten, dann kommt die Physiotherapeutin und der Troß zieht mit in den Trainingsraum und dann lassen sie Abendessen kommen und ich fühle wachsende Mordlust. Ab und an muß ich da nämlich mit dem Walker durch – dann hasse ich sie alle noch viel mehr. Zum Glück mach ich was mit Internet und nicht Altenpflege. Schon gar nicht auf philippinisch, wobei ich inzwischen die angemessenen Anreden für ältere Damen akzentfrei beherrsche: “naynay” und “lóla”. Was Filipinos seinerzeit in solchen Massen in den Großraum von Pacifica verschlagen hat, habe ich noch nicht recherchiert, aber inzwischen sind sie alt und grau und haben es hingekriegt, daß überdurchschnittlich viele jüngere Nachkommen Karrieren in der Altenpflege anstreben. Sie gehen mit den Greisen großartig um, freundlich, voller Achtung, respekt- und liebevoll, aufmerksam und mit einer Geduld, die ihresgleichen sucht.

Mir wäre es ja vor allem zu laut. Kein Gerät, daß nicht auf “Lärm XXL” eingestellt ist. An jedem Bett ein Fernseher, aus den Vierbettzimmern konkurrieren dann auch schon mal vier Programme lauthals gegeneinander. Keine Zimmertür je geschlossen, jeder Wind, jeder Nachtmahr, jeder Dämon gehört dem ganzen Flur. Immer. Immer. Immer piept, klingelt, scheppert irgendwas. Immer. Immer. Irgendwer stöhnt, wer anderer keucht, hustet, rülpst, befreit sich von Schleim und anderen Körperflüssigkeiten. Würde bekommt ohnehin einen ganz neuen Stellenwert. Für mich heißt geschlossene Badezimmertür, daß ich dahinter Verrichtungen nachgehe, die ich nicht mit der Öffentlichkeit zu teilen wünsche. Für das hiesige Personal ist es das Signal für “Notfall – Klopfen – Aufreißen”. Während die Schwester mit mir auf dem Gang die Qualität meines Stuhls diskutiert, hart, weich, viel, wenig, Farbe, Geruch, Form, stellt sich ein kleiner dicker Priester dazu. Er sieht aus, als klärte er in seiner Freizeit Kriminalfälle. Kostümiert in traditionellem Schwarz mit hochstehendem Kragen und gerade noch genug Resthaar, damit die Glatze wie frischgesalbt schimmert, ein Schüsselchen Oblaten in der Hand. “Wie?”, will er wissen “Wie hältst du’s mit der Religion?”

Eine Diskussion, die ich gerne und mit Leidenschaft führen würde. Vor allem mit einem Repräsentanten Petri, der auf meine Ansage “I am not religious” locker aus der Hüfte ein “Yup. Me neither.” zurückschießt. Aber doch nicht, wenn wieder irgendeine Hilfskraft am Sitz meines “Gowns” (hinten offen) herumwurschtelt. Man bekommt hier für die ersten Spaziergänge ein zweites Gown quasi falschrum angezogen, damit nicht immer eine dritte Person mitmuß, die hinten zuhält. Ein Elendsgewurschtel ist es trotzdem. Ich habe nicht die Größe, mich in einem solchen Kittel halbert entblößt und dennoch entspannt zu einem Gespräch über Gott und die Welt niederzulassen. Ich verstehe vor allem deren Sinn bei einem einigermaßen selbständigen Patienten nicht. Habe das Ding nach dieser Episode retourniert und bin seitem in Zivil unterwegs.

Meistens auf der Flucht vor Animateuren. Jeden morgen steht ungefragt eine/r im Zimmer (wie gesagt, Türen ganz weit offen) und lädt zum unglaublichen “DAILY FUN” ein. Ich preise mich inzwischen schon glücklich, wenn die “Action today on the 2nd Floor” tobt. Das heißt nämlich hier im dritten Stock nicht noch mehr zusätzlicher Lärm. Gestern war “Cinqo de Mayo” wo Pfleger in Mariachi-Kostümen mit Pappgitarren lustig zu Playback und mit einer Polonäse den Laden richtig aufgemischt haben. Aber sowas von. Zu essen gabs Pizza, Chips, Salsa und irgendwas lebensmittelgefärbtes, das Rotwein darstellen sollte. Heute früh war Chicken Dance (Ententanz) im Sitzen, abends Singen mit Jimmy, Traditionelles Liedgut zur Gitarre. Zur Vorbereitung und wg. Textsicherheit lief den ganzen Tag überlaut John Denver. Ich kann jetzt jedes Lied von dieser Platte auswenig. Rocky Mountain Man – ja mir gehst weg. Ehrlich, Evolution, man möchte an dir zweifeln – warum wachsen uns immer noch keine Ohrenklappen?

Heute lasse ich mir ein schönes fettes Mitternachts-Oxymoron reichen (pain management, hihi), vielleicht verpasse ich so mal den traditionellen Nightwalker-Treff um halb vier. Ich bin da eh nie gut drauf. Mich haben erstens Schmerzen sowie zweitens die Darmtätigkeit meiner Nachbarin nicht schlafen lassen und ich stehe bei allfälligen Diskussionen mit zwei Seniormitgliedern des Pflegepersonals dem Thema Euthanasie und selbstbestimmter Entscheidung, wann gut ist, schon wesentlich aufgeschlossener gegenüber als noch vor drei Tagen.

Beschlossen und verkündet: ich entlasse mich am Freitag. Zahlt isch zahlt. Und ich freue mich schon riesig, wenn daheim die paar Flieger und Züge nachts für den Lärm zuständig sind. Von Menschengeräuschen habe ich jetzt erst mal genug. Damit besteht eine reelle Chance, daß der alte Mann, der die ganze Nacht auf einer Plastikschüssel trommelt, das auch nächste Woche noch tut und ich sie ihm nicht zertrete.

Vom Therapieren

Einer meiner wichtigsten Genesungsbeiträge als Patient ist eigenverantwortliches “pain management”; mir steht eine ganz ordentliche Menge Opiate zur Verfügung und ich kann und muß steuern, was ich brauche, um mich bewegen zu wollen und zu können. Eine Nebenwirkung (??) von Oxycodon* ist sein Euphorisierungspotential. Ich bin ca. 20 Minuten nach der Einnahme sehr fröhlich und mitteilsam. Ja. Noch mehr als sonst.

Die Occupational Therapist Megan findet mich schon sehr fortgeschritten und will, daß ich nach dem Fast-schon-Strand-Spaziergang Wii-Balancespiele spiele. Weil ich deutsch bin, legt sie Fußball auf und meine arme Spielfigur kriegt ständig Stollenschuhe und Bälle ins Gesicht. Nur den Pandakopf haue ich zu Matsch und kassiere drei Strafpunkte. Frag ich, ob sie nicht noch ein anderes Spiel hat, weil ich von Fußball nix verstehe. Kriege ich Pinguin auf Eisscholle fängt Fische. Halte mich nicht lange mit den Spielregeln auf und werfe meinen Pinguin einfach bäuchlings auf die Fische – wir scoren in der ersten Runde sehr hoch und der gesamte Therapieturnsaal lacht sich schebbelig. Teile ihnen mit, daß es nicht nett ist, wenn man jemanden belacht, der high as a kite ist und daß ich ab morgen für die Alleinunterhaltung Eintritt verlangen werde. Habe bereits zwei Reservierungen.

* Ich habe es in einem meiner Euphorie-Flashes in Oxymoron umbenannt und inzwischen machen meine Nachtschwestern Ben und Christian sich einen Jux daraus, das Zeug unter diesem Namen auszuliefern.