Als Literaturwissenschaftlerin könnte ich mich zur Zeit in Rekonvaleszenzreferenzen suhlen… Mal sehen, was mir so alles einfällt. Für den Zauberberg ist es direkt am Ozean zu flach und in einer Matratzengruft leidend zu verwesen ist auch nicht mein “spiel” – ganz im Gegenteil, für die langsameren unter den Schwestern bin ich schon viel zu schnell. Mit dem Effekt, daß heute die halbe Verwaltung aufmarschiert ist, um mir zu erklären, daß sie für mich “liable” seien und ich mich doch bitte für kleine Spaziergänge außerhalb des Geländes ordnungsgemäß abzumelden habe. Die Pragmatikerin aus der Buchhaltung kam drei Minuten später mit der Rechnung bis einschließlich Freitag und einem mobilen Kreditkartenlesegerät an. Sie sind jetzt zwar immer noch “liable”, bleiben aber nicht auf den Kosten sitzen, wenn’s mich wo auf die Schnauze haut.
Ich denke allerdings, daß ihr nicht ganz klar ist, daß sie sich vor lauter Geld schnell retten um mehr gebracht haben dürfte. Eigentlich sollte ich zunächst bis Samstag bleiben und aller Voraussicht nach gegen Mitte bis spätestens Ende der folgenden Woche entlassen werden. Nun hat sie meinen schwäbischen Ehrgeiz (“zahlt isch zahlt”) angestachelt, wäre doch gelacht, wenn ich nicht bis Freitag fit genug wäre, um die Anstalt zu verlassen. Anstalt? Ja. Das ist hier eine Einrichtung für die kurz- bis mittelfristige Pflege von Greisen, dem einen oder anderen Schlaganfallbetroffenen oder – ausnahmsweise – Reha nach Gelenkaustauschaktionen. Aktuell bin ich die einzige derartige Patientin und das Anstaltsnesthäkchen. Drum fällt es natürlich auf, daß meine Genesung so ungeheuer schnell verläuft und ich frischoperiert zu mehr imstande bin, als andere Insassen hier nach Wochen. Meine OT kann mir, sagt sie, eigentlich nix mehr Neues beibringen – 99% der Patienten seien zum Entlassungszeitpunkt noch nicht auf dem Level, auf dem ich schon bin und statt zu turnen, hat sie mich heute auf einen richtigen Kaffee aus richtigen gerösteten Bohnen in einem richtigen Coffeeshop nach einem richtigen “walk in the sunshine” eingeladen. Dafür muß ich nicht zahlender Gast sein, für solche Sperenzkerlen sind Carmen und ich eh schon auf nächste Woche verabredet.
Meine greise Nachbarin im Zweibettzimmer, die am besten schläft, wenn sie gegen den viel zu lauten Fernseher anschnarcht und gerne ihre favorisierte Krankenschwester direkt herbeijammert, statt diskret auf einen Knopf zu drücken, um sich dann bei Hellstbeleuchtung von mehreren Personen aus dem Bett in den Rollstuhl und dann aufs Klo und zurückhieven zu lassen, ist jetzt auch nicht ganz direkt dem Heilungserfolg zuträglich. Sie ist stolze Mutter von sechs Töchtern und drei Söhnen, die Zahl der Enkel und Urenkel ist volatil. Natürlich kommen die Lieben jeden Tag ab Frühnachmittag zu Besuch und dann schnattern sie. Mit Mama, Oma, am Telefon, untereinander, den Schwestern, anderem Personal und Patienten, dann kommt die Physiotherapeutin und der Troß zieht mit in den Trainingsraum und dann lassen sie Abendessen kommen und ich fühle wachsende Mordlust. Ab und an muß ich da nämlich mit dem Walker durch – dann hasse ich sie alle noch viel mehr. Zum Glück mach ich was mit Internet und nicht Altenpflege. Schon gar nicht auf philippinisch, wobei ich inzwischen die angemessenen Anreden für ältere Damen akzentfrei beherrsche: “naynay” und “lóla”. Was Filipinos seinerzeit in solchen Massen in den Großraum von Pacifica verschlagen hat, habe ich noch nicht recherchiert, aber inzwischen sind sie alt und grau und haben es hingekriegt, daß überdurchschnittlich viele jüngere Nachkommen Karrieren in der Altenpflege anstreben. Sie gehen mit den Greisen großartig um, freundlich, voller Achtung, respekt- und liebevoll, aufmerksam und mit einer Geduld, die ihresgleichen sucht.
Mir wäre es ja vor allem zu laut. Kein Gerät, daß nicht auf “Lärm XXL” eingestellt ist. An jedem Bett ein Fernseher, aus den Vierbettzimmern konkurrieren dann auch schon mal vier Programme lauthals gegeneinander. Keine Zimmertür je geschlossen, jeder Wind, jeder Nachtmahr, jeder Dämon gehört dem ganzen Flur. Immer. Immer. Immer piept, klingelt, scheppert irgendwas. Immer. Immer. Irgendwer stöhnt, wer anderer keucht, hustet, rülpst, befreit sich von Schleim und anderen Körperflüssigkeiten. Würde bekommt ohnehin einen ganz neuen Stellenwert. Für mich heißt geschlossene Badezimmertür, daß ich dahinter Verrichtungen nachgehe, die ich nicht mit der Öffentlichkeit zu teilen wünsche. Für das hiesige Personal ist es das Signal für “Notfall – Klopfen – Aufreißen”. Während die Schwester mit mir auf dem Gang die Qualität meines Stuhls diskutiert, hart, weich, viel, wenig, Farbe, Geruch, Form, stellt sich ein kleiner dicker Priester dazu. Er sieht aus, als klärte er in seiner Freizeit Kriminalfälle. Kostümiert in traditionellem Schwarz mit hochstehendem Kragen und gerade noch genug Resthaar, damit die Glatze wie frischgesalbt schimmert, ein Schüsselchen Oblaten in der Hand. “Wie?”, will er wissen “Wie hältst du’s mit der Religion?”
Eine Diskussion, die ich gerne und mit Leidenschaft führen würde. Vor allem mit einem Repräsentanten Petri, der auf meine Ansage “I am not religious” locker aus der Hüfte ein “Yup. Me neither.” zurückschießt. Aber doch nicht, wenn wieder irgendeine Hilfskraft am Sitz meines “Gowns” (hinten offen) herumwurschtelt. Man bekommt hier für die ersten Spaziergänge ein zweites Gown quasi falschrum angezogen, damit nicht immer eine dritte Person mitmuß, die hinten zuhält. Ein Elendsgewurschtel ist es trotzdem. Ich habe nicht die Größe, mich in einem solchen Kittel halbert entblößt und dennoch entspannt zu einem Gespräch über Gott und die Welt niederzulassen. Ich verstehe vor allem deren Sinn bei einem einigermaßen selbständigen Patienten nicht. Habe das Ding nach dieser Episode retourniert und bin seitem in Zivil unterwegs.
Meistens auf der Flucht vor Animateuren. Jeden morgen steht ungefragt eine/r im Zimmer (wie gesagt, Türen ganz weit offen) und lädt zum unglaublichen “DAILY FUN” ein. Ich preise mich inzwischen schon glücklich, wenn die “Action today on the 2nd Floor” tobt. Das heißt nämlich hier im dritten Stock nicht noch mehr zusätzlicher Lärm. Gestern war “Cinqo de Mayo” wo Pfleger in Mariachi-Kostümen mit Pappgitarren lustig zu Playback und mit einer Polonäse den Laden richtig aufgemischt haben. Aber sowas von. Zu essen gabs Pizza, Chips, Salsa und irgendwas lebensmittelgefärbtes, das Rotwein darstellen sollte. Heute früh war Chicken Dance (Ententanz) im Sitzen, abends Singen mit Jimmy, Traditionelles Liedgut zur Gitarre. Zur Vorbereitung und wg. Textsicherheit lief den ganzen Tag überlaut John Denver. Ich kann jetzt jedes Lied von dieser Platte auswenig. Rocky Mountain Man – ja mir gehst weg. Ehrlich, Evolution, man möchte an dir zweifeln – warum wachsen uns immer noch keine Ohrenklappen?
Heute lasse ich mir ein schönes fettes Mitternachts-Oxymoron reichen (pain management, hihi), vielleicht verpasse ich so mal den traditionellen Nightwalker-Treff um halb vier. Ich bin da eh nie gut drauf. Mich haben erstens Schmerzen sowie zweitens die Darmtätigkeit meiner Nachbarin nicht schlafen lassen und ich stehe bei allfälligen Diskussionen mit zwei Seniormitgliedern des Pflegepersonals dem Thema Euthanasie und selbstbestimmter Entscheidung, wann gut ist, schon wesentlich aufgeschlossener gegenüber als noch vor drei Tagen.
Beschlossen und verkündet: ich entlasse mich am Freitag. Zahlt isch zahlt. Und ich freue mich schon riesig, wenn daheim die paar Flieger und Züge nachts für den Lärm zuständig sind. Von Menschengeräuschen habe ich jetzt erst mal genug. Damit besteht eine reelle Chance, daß der alte Mann, der die ganze Nacht auf einer Plastikschüssel trommelt, das auch nächste Woche noch tut und ich sie ihm nicht zertrete.