Noch einmal aufstehen

Man möchte nicht glauben, wie aufwendig Check-out ist, ich hatte jedenfalls den ganzen Vormittag zu tun. Erstens: Unter Aufsicht duschen, nicht, daß ich das daheim dann falsch mache. Da steht in jedem Post-OP-Ratgeber, man möge den Badewannenboden mit Antirutsch-Dingern pflastern – bloß: hier gibts keine und sie legen die Fliesen mit alten Handtüchern aus. Trotz Hindernissen war ich so schnell quietschesauber, daß noch eine halbe Stunde Spaziergang drin war. Mit Whale Watching* und das Ein- und Aussteigen in ein Auto wiederholen. Nächste Stunde: Am Stock gehen. An einem alten schweren Stock ohne gescheite Federung und mit scheuerndem Kunststoffgriff. Meiner daheim wiegt nix, ist superstoßgedämpft und der Griff ist mit Schaumgummi bezogen – ein echter “HurryCane”. So ein Schwachsinn – man sollte doch meinen, daß der Sinn von Rehabilitation darin besteht, die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern und nicht mit extraaltem Equipment zu erschweren. Obwohl, möglicherweise ist der Test, hier unter erschwerten Bedinungen den aufrechten Stand zu wahren. (Was nicht umbringt und so…) Die Therapeutin war dazu überfragt. Für hier und heute habe ich eh austherapiert.

Nun im Meeting mit einem Team aus Discharge Manager, Case Manager, Head Nurse und Florinda von General Administration den “schedule” für morgen diskutieren. Ja, meine Medikamente werde man mir mitgeben, damit ich nicht gleich zur Apotheke zu rennen brauche; nach drei Anläufen war die Liste denn auch komplett. Zwei Therapiestunden in der Frühe kann ich auch noch bekommen (habe mir schon eine Stunde Herumalbern mit dem Wii gewünscht), aber… Was aber? Also, wenn ich nochmal Mittagessen will und länger als bis High Noon bleibe, dann müssen sie mir nochmal einen vollen Tag berechnen. Nochmal langsam: ihr erklärt gerade einer Schwäbin, daß einmal auf diesen Drecksfraß zu verzichten ihr ein paar hundert Dollar spart? Hmm, da muß ich jetzt aber wirklich nachdenken. Nein, muß ich nicht: “You got it, ladies. No lunch for Sabine tomorrow. I’ll be gone by noon.” Den Spezialrollstuhltransporter müsse man ebenfalls extra…, nein, müßt ihr nicht. Ich kann schon in einem ganz normalen Auto mitfahren (siehe oben). Ja, und dann die große Frage, ob mein Mann denn morgen schon so früh aus der Arbeit wegkönne. Weiß ich nicht, wir sind seit über 20 Jahren geschieden – aber Toni kann und will und wird. Und ja, zuverlässig ist er auch. Sehr.

Mittagessen: Wärmehaube auf, nasebeleidigenden Duftschwall inhaliert und nach Inaugenscheinnahme einfach Deckel wieder drauf. Ich trinke mein warmes Diet Coke, werfe ein Double-Whammy Oxycodon ein und verschenke den Nachtisch “Blushing Pears” = Dosenbirnen mit Päcklespuderparmesan an meine Zimmernachbarin. Mittagessen Ende. Anschließend plane ich mich in Oxys Armen bei einem Mittagsschläfchen von den vormittäglichen Anstrengungen zu erholen. Meine reizende Zimmernachbarin hat in meiner mehrstündigen Abwesenheit den Lautstärkeregler ihres Fernsehers frech auf immer noch lauter gedreht und Alexandras Baby schreit den ganzen Flur zusammen. Dann wird es für sein hübsches Kleidchen und die schönen Löckchen gelobt und bedankt sich artig. Halt, Moment, das paßt nicht. Zum richtig schlafen ist es viel zu laut und beim Halbertdösen erschließe ich mir, daß das Gebrüll wohl eine Rückblende war. Das Kind ist inzwischen bei Jezebel gelandet, von der ich, ohne sie je gesehen zu haben, weiß, daß sie ausschließlich und zu jeder Tages- und Nachtzeit Paloma-Picasso-Farben trägt (Rouge et Noir), viel Gold, Make-up und große Sonnenbrillen, man hört schon an der Stimme, daß sie eine Böse ist und so einen Namen geben einem die Drehbuchautoren ja auch nicht von ungefähr. Jezebel intrigriert und spielt jeden gegen jeden aus – bevor ich den Mittagsschlaf endgültig aufgebe und mir wieder mit Kopfhörern meinen eigenen Lärm in die Ohren blase, bekommt das Balg ungeplant und sehr zu Jezebels Mißvergnügen die Masern und sie verspätet sich zum entscheidenden konspirativen Treffen. Das Schicksal (und der Name) von Alexandras Baby wird wohl auf dem Haufen der ungelösten Fragen in meinem Leben landen.**

Eine treue deutsche Leserin hat meine letzten ewiglangen*** blogposts mit “so schlecht kann’s ihr gar nicht gehen, so wie sie übers Essen schimpft” kommentiert. Das stimmt, und dafür, daß mir amerikanisches Essen weder in der Variante ungewürzt aber dafür püriert, noch in der Standardzubereitung (viel, aber nicht gut) nicht schmeckt, kann die Küche des Pacifcarehab Center http://www.pacificarehab.com/ nichts.  (Man beachte die geniale Aneinanderreihung sinnhafter Worte – das hätte mit San Bruno nicht geklappt.) Für meine Genesung haben sie hier ungeheuer viel getan, ich bin aktuell dem üblichen Verlauf ca. eine gute Woche voraus. Was die Pfleger/innen hier stemmen, ist bewundernswert – die Personaldecke ist zwar dichter als in vielen anderen Einrichtungen, aber natürlich langts nie. Trotzdem habe ich nicht ein einziges Mal einen ungeduldigen oder unfreundlichen Ton gehört und ich bewundere eine/n jede/n für den liebe- und respektvollen Umgang mit alten Menschen, denen Hirn und Körper dahinschwinden. Es ist bestimmt gut gemeint, den ehemaligen Architekten in der Ergo-Therapie in diesem quenglenden Kleiner-Prinz-Ton dazu aufzufordern “Bitte, zeichne mir ein Haus”. Der Mann schaut dann aus ungeheuer traurigen Augen von der Zeitung hoch, die man ihm morgens aufgeschlagen in die Hand gesteckt hat und dann wackelt er mit dem Kopf. Das Magazin ist am nächsten Tag eine Seite weitergeblättert und er ist immer noch aphasisch und mag kein Haus zeichnen. Ich weiß nicht, ob warm, trocken und schmerzfrei gehalten zu werden die Bezeichnung “Leben” verdient und ob er sich das gewünscht hat/hätte. Die Dämonenfrau wird morgens aus dem Bett geholt, in eine frische Windel und ein trockenes “gown” gesteckt und für den Rest des Tages in ihrem Rollstuhl dazugestellt, wo sich mehrere Menschen Personal aufhalten. Sie heult alle paar Minuten tageszeitenunabhängig in Klang und Tragweite eines geflügelten Wolfs auf. Nur wenn sie in ihre Windel kackt, knurrt sie. Auch sie wird warm, satt, sauber und trocken gehalten und nicht irgendwo im Hinterzimmer versteckt. Dennoch, will man so vegetieren? Manche alten Männer verbringen den ganzen Tag im Bett und starren in den Fernseher**** – außer bei gelegentlichen Therapieeinheiten, deren Dauer von der Qualität ihrer Krankenversicherung abhängt. Wenn man den Therapeuten glauben darf, lungern gelegentlich Versicherungsdetektive im und ums Gebäude herum – sobald nämlich einer einen gewissen Fortschritt erreicht hat, wird er in die “Selbständigkeit” entlassen. Bei vielen führt das direkt zum Pappkarton auf dem Heizungsschacht. Das heißt, die Therapeuten müssen auf den Erhalt des Status quo behandeln, wenn sie ihre Patienten schützen wollen – und nicht auf Besserung.

In diesem Haufen schuffelnder kopfhängender trauriger Geschöpfe fällt dann ein Exot wie die Dame heute früh doppelt auf. Zwar in Trainingsklamotten, aber mit Stil gekleidet, Haarband, ein bißchen Make-up und voller Antrieb, hier wieder rauszukommen – “I used to be a prima ballerina in the Austin Opera House – still can’t believe I wracked my knee”. Und dann reckt und streckt sie sich an den Stangen vor dem Spiegel, daß man “Standing Ovations” geben möchte. Kann nur keiner aufstehen, so schnell. Derweilen werden andere auf die Trainingsräder plaziert, ein Gown richtig-, eines falschrum und ein Handtuch über die Körpermitte – dann sind schon mal 10 von 35 Therapieminuten um und sie dürfen endlich lostreten. Warum gibt man denen nicht simple Baumwollturnhosen und Hemdchen? Dauert auch nicht länger zum Anziehen, wäre aber so viel sinniger – und würdiger. Von Würde möchte ich gar nicht erst wieder anfangen, das ist ein viel zu weites Feld.

Kann aber jedem nur ans Herz legen, so eine Woche zu verbringen, wo man allen Varianten von Lebensende ausgesetzt ist – und selbst drauf angewiesen, daß einem einer vom Klo hochhilft oder aus dem Bett, weil das Bein noch nicht wieder Kraft dafür hat. Ich bin privilegiert. Ich gehe hier wieder weg. Aber: Ich werde mir daheim meine Patientenverfügung noch einmal ganz genau ansehen und ich hoffe, daß die bloße Masse unserer Babyboomer-Generation dafür sorgt, daß Gesetzesänderungen für unterstütztes oder selbständiges Sterben beschleunigt werden und der Zugang zu entsprechender Medikation liberalisiert. Freitod ist einer vegetabilen Existenz allemal vorzuziehen.

 

* Gerade ist Algenblüte und jeden Tag ziehen mehrere Walschulen am Horizont vorbei. Manchmal wirft sich einer auf die Seite und fächelt die Leckereien mit den großen Flossen an die Oberfläche und dann lassen sich Pelikan- und Möwenschwärme wie Steine ins Wasser fallen. Reha am Meer ist großartig!

** Kaum schreibt man vier Stunden blogpost, gibt Jezebel in einer stürmischen Nacht auf einer Klippe dem Rollstuhl mit Alexandras Baby drin einen kräftigen Schubs. Mit diesem Cliff Hanger (hihi, Wortspiel) ist dann für heute erst mal Schluß.

*** Hey, not my fault. Oxycodon macht geschwätzig. Ich hätte allerdings vorher auch nicht vermutet, daß ich über meine hiesigen sehr langweiligen Tage soviel zu erzählen haben würde.

**** Mein neuer Freund Bellamy, 86: “I used to ride my truck from coast to coast. Now I lay in bed, watch TV and wait for death to keep his appointment. You know what, girl? Guy’s bloody late.”

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