Aus dem Vokabelheft

Meine Lern-jeden-Tag-was-App hat mir heute ein Wortquiz geschickt, das ich nicht wegen der Lösung (die ist naheliegend), hingegen wegen der Auswahl an Ansätzen ausgesprochen nett fand:

*** vaxxie ***

a) removal of body-hair treatment
b) a computer virus protection program
c) a selfie while being vaccinated

Subversive Nadelstiche

Ich wollte mich ja eigentlich nur nach Stickgarnen umsehen und bin ganz verblüfft, welche Vorlagen der auswärtige Anbieter hier im Programm hat…

Schnell weggelesen: Arnaldur Indriðason – “Todeshauch”

Am Wochenende hatte ich vergessen, ein Buch mitzunehmen. Das ist eigentlich schlimm, denn in der elterlichen Bibliothek ist die Auswahl beschränkt auf Konsalik, Danella und seit neuestem Nicholas Sparks, an dem wohl eine der Nichten einen Narren gefressen hat.

Aber zum Glück ist ein Erlendur-Islandkrimi aufgetaucht und auch wenn die Sprache meist sperrig und etwas holprig daherkommt (mangels Isländisch-Kenntnissen weiß ich bis heute nicht, ob das am Autor oder an der Übersetzung liegt), war der Fall doch hinreichend spannend. Falsch. Interessiert hat mich weniger das “Whodunit” als vielmehr die Rückschau in die Geschichte Islands in beiden Weltkriegen. Das ist bei uns im Unterricht nicht gelehrt worden und nun weiß ich mehr und dafür hat sich das Buch gelohnt.

Muttermund

Meine Mutter hat ihre eigene Dehnzeit erfunden und das schöne neue Wort verlangsameren geschöpft.

Aus dem Haus

Krachend bricht die Tür auf und uniformierte Polizisten rumpeln in den Flur – aus der Wohnung sind “komische Geräusche” “gemeldet” worden und das bedeutet in diesem Unterschichtenfernsehenuniversum immer mindestens Kindesmißhandlung, meistens aber lauten Sex. Soweit die die Ordnungsmacht ganz selbstverständlich begleitende Nachbarin betroffen ist, handelt es sich in Tateinheit um beides. Denn in der aufgebrochenen Wohnung finden sich ihr Sohn (in Turnschuh-Jeans-T-Shirt) und die Mieterin der Wohnung (im Morgenmantel), was die besorgte Mutter zu Handgreiflichkeiten sowie den Aussagen hinreißt (zum Knaben): “Ey, die könnte deine Mutter sein, Alter! Warum bissu nicht in der Schule?” und “Was machst du mit meinem Kind, du Schlampe?” (zur Nachbarin). Letztere hat laut Skript nur einen Satz bekommen, den intoniert sie im Folgenden in unterschiedlichen Lagen “Wir lüben uns”. Der verführte Jungmann (“Wir lüben uns”) “gesteht” auf Nachfrage der Hüter von Recht und Ordnung, dass er schon 18 sei (“Wir lüben uns”), was diese zu dem Schluß bringt, dass “er ja dann machen kann, was er will. Also, nicht alles, was er will. Aber das schon.” (“Wir lüben uns”). Seine Mutter kann und will diese Ungerechtigkeit nicht verstehen. “Aber”, argumentiert sie schlüssig und kreischend, “dieisdochalt und dassisdochmeinSohn”. Ja, hilft nix. “Wir lüben uns”. Diesen Fall haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht bedacht. Die Polizei empfiehlt, “sich doch zukünftig abzusprechen”. Ich stelle mir das nett vor, wenn der junge Mann künftig das Haus mit den Worten verläßt, “ich geh dann mal rüber zur Frau Müller, vögeln”.

Dafür habe ich seit zwei Wochen das Haus nur noch FFP2-maskiert für Einkäufe verlassen.

Also nicht nur dafür, versteht sich, denn der nächste Fall schließt sich gleich nach der Werbung an. Ein fünfzehnjähriges Mädchen trägt ein Schild um den Hals: “Ich bin rotzfrech, lüge und stehle.” Sie wird von ihren Klassenkameraden gehänselt und gefilmt. Sie könnte einfach weglaufen, wenn sie nicht mit Kabelbindern an einen Laternenmast gefesselt wäre. Anwohner haben die “Ruhestörung in der Mittagszeit” gemeldet, wieder kommt die Ordnungsmacht. Das sei, befindet Poli, “unter aller Kanone”. Zisti: stimmt zu. Das Mädchen ist nicht begeistert von der Befreiung. Sie sei noch unter der Dreistundenfrist. Poli: versteht nicht recht. Zisti: stimmt zu. Man sucht gemeinsam die elterliche Wohnung auf. Poli befindet angesichts des Zustands der Behausung, dass hier wohl gestern eine “wilde Party” stattgefunden haben müsse. Zisti: stimmt zu. Auf dem Sofa bewegt sich was. Es ist die Frau Mutter im kompletten “Morning-After”-Habit, zerzaustes Haar, ruiniertes Make-up, fragwürdig sitzende Kleidung, die die Vermutung entrüstet von sich weist. Hier sähe es immer so aus. Sie käme ja mit dem Balg nie zum Feiern und habe sich jetzt gerade nur eine kleine Ruhepause gegönnt. Ob sie denn eine Vermutung habe, wer ihrer Tochter das “angetan”* haben könne, mit der Laterne und dem Schild und den Kabelbindern, will Poli wissen. Zisti: stimmt zu. Natürlich weiß die Frau Mutter das. Sie selbst. Anbinden und drei Stunden so stehen lassen. Denn das sei der einzige Weg, die Rotzgöre zu erziehen. Das wieder findet Poli nicht. Das sei vielmehr Freiheitsberaubung und Beschimpfung, noch dazu gefährlich. Wenn die zum Beispiel einfach wer losbindet und mitnimmt, hmmm? Was dann? Zisti: stimmt zu. Die Frau Mutter auch. Von ihr aus. Dann sei das Dreckstück endlich weg. Mache eh nur Probleme. Poli ist geschulter Erziehungsberater und postuliert “Kinder kommen nie nach einem Fremden, sondern immer nur nach der Mutter. Oder dem Vater.” Zisti: stimmt zu. Die Stimme auf dem Off informiert sonor, dass eine Lösung gefunden worden sei. Mutter macht bei der Krankenkasse Alkoholentzug, Göre zieht in betreute Jugend-WG. Zisti: stimmt zu.

Dann gehe ich raus zum Rauchen und bekomme vom nächsten Fall nur das Urteil mit: “Rüdiger muß wegen Schwerem Raub und Nachstellung zwei Jahre und drei Monate in Haft”. Ich will mich mit meinem Buch ins Nebenzimmer verabschieden. Aber nicht doch. Bleiben soll ich. Und da geschehen wahrhaftig noch Zeichen und Wunder: der Fernseher wird ausgeschaltet. Dafür geht sofort das Radio an. Laut. Da schau her, der Hartmut Engler aus Bietigheim-Bissingen hat dem Virus ein Lied geschrieben. “Keiner will alleine sein”. Wisset Se, Herr Engler, das hängt ja immer auch von der Situation ab. Angenommen, ich hätte die Wahl zwischen PUR-Konzert und Allein-auf’m-Sofa… Aber lassen wird das. Welches Problem teilt jener Herr nun zwischen Mireille Mathieu und Udo Jürgens mit der Welt? “Mama, ich liebe anders”. Der “Herr”, informiert mich meine Mutter, sei Patrick Lindner und bei dem sei das wie bei Jens Spahn und würde ihr ü-ber-haupt nichts ausmachen. Meine Fresse, da hat die Toleranz aber Einzug gehalten ins SWR-4-Land. Eine Tasse hätten wir auch beinahe gewonnen, aber dann doch nicht, weil ich bei Andrea Berg nicht textsicher war. Schade eigentlich, konstatiert meine Mutter, dass keines ihrer Kinder ihren Musikgeschmack geerbt habe, mein Bruder höre ja auch nur “Heggelmeggel”.

Dann wird es dunkel und das Frühabend- und Abendfernsehprogramm brechen über meinem Elternhaus ein. In der Nacht fallen 10 Zentimeter Schnee und verwandeln Garten, Treppe und Einfahrt in ein Winterwunderland. Ich bin, wie immer bei Schneefall, erst einmal persönlich beleidigt, und tue dann etwas, was ich seit mindestens 10 Jahen nicht getan habe: ich schippe, kehre, streue und erfahre rückkehrend von der (hihi) “Kehrseite” des Winters. Kann wegen durchnäßter Halbschuhe nicht richtig drüber lachen.

Auf der Heimfahrt kontempliere ich den Umstand, dass Isolation seit Corona nicht mehr als soziales Unvermögen, sondern volksgesundheitsförderliches Wohlverhalten gilt und lasse mir von Lutz Görner das ganze Heinesche Wintermärchen rezitieren.

Eltern gesehen, Heine gehört. Dafür lohnt sich Quarantäne. Und jetzt würde ich gerne zügig geimpft.

* “Angetan” wird in diesen Sendungen ständig jemandem etwas. Im allgemeinen umschreibt man damit zielgruppentauglich eine Vergewaltigung.

Gelesen: Andreas Lechner – “Heimatgold”

Ein Buch wie aus Holz gearbeitet, grob und ungehobelt.

Andreas Lechner erzählt das Leben seines Großvaters, des Bauernbuben Josef Straßberger aus Kolbermoor, der es bis zum Olympiasieger im Gewichtheben und zum Münchner Gastronom und Hotelier bringt.

Immer, wenn er mit der Stimme des Großvaters spricht, ist das Buch nah an dem Menschen, der sein eigenes Schicksal kaum fassen kann und doch mit beiden Beinen im Leben steht. Problematisch wird es, wenn Lechner die Zeitgeschichte von der letzten Jahrhundertwende bis zum Beginn des Nachkriegswirtschaftswunders einflanscht. Um im Holzarbeitsbild zu bleiben: da hackt er rauhe Stücke aus anderen Baumsorten und presst sie mit Gewalt hinein in sein Sittengemälde. Das geht manchmal rührend schief, etwa, wenn der Kolbermoorer Bub bei einer Nachtwanderung durch New York in einem Keller landet, wo ein Schwarzer namens Duke eine ganz neue Musik “am Klavier zaubert” und ist an anderen Stellen, wo er historische Anekdoten oder Informationen zu vermitteln versucht, eher anstrengend. Weil die Sprache nicht passt.

Lesen sollte man das Buch aber trotzdem. Es ist vielleicht literarisch nicht der große Wurf, aber in seinem Bemühen, Ausdruck zu finden, sehr wahrhaftig.