Krachend bricht die Tür auf und uniformierte Polizisten rumpeln in den Flur – aus der Wohnung sind “komische Geräusche” “gemeldet” worden und das bedeutet in diesem Unterschichtenfernsehenuniversum immer mindestens Kindesmißhandlung, meistens aber lauten Sex. Soweit die die Ordnungsmacht ganz selbstverständlich begleitende Nachbarin betroffen ist, handelt es sich in Tateinheit um beides. Denn in der aufgebrochenen Wohnung finden sich ihr Sohn (in Turnschuh-Jeans-T-Shirt) und die Mieterin der Wohnung (im Morgenmantel), was die besorgte Mutter zu Handgreiflichkeiten sowie den Aussagen hinreißt (zum Knaben): “Ey, die könnte deine Mutter sein, Alter! Warum bissu nicht in der Schule?” und “Was machst du mit meinem Kind, du Schlampe?” (zur Nachbarin). Letztere hat laut Skript nur einen Satz bekommen, den intoniert sie im Folgenden in unterschiedlichen Lagen “Wir lüben uns”. Der verführte Jungmann (“Wir lüben uns”) “gesteht” auf Nachfrage der Hüter von Recht und Ordnung, dass er schon 18 sei (“Wir lüben uns”), was diese zu dem Schluß bringt, dass “er ja dann machen kann, was er will. Also, nicht alles, was er will. Aber das schon.” (“Wir lüben uns”). Seine Mutter kann und will diese Ungerechtigkeit nicht verstehen. “Aber”, argumentiert sie schlüssig und kreischend, “dieisdochalt und dassisdochmeinSohn”. Ja, hilft nix. “Wir lüben uns”. Diesen Fall haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht bedacht. Die Polizei empfiehlt, “sich doch zukünftig abzusprechen”. Ich stelle mir das nett vor, wenn der junge Mann künftig das Haus mit den Worten verläßt, “ich geh dann mal rüber zur Frau Müller, vögeln”.
Dafür habe ich seit zwei Wochen das Haus nur noch FFP2-maskiert für Einkäufe verlassen.
Also nicht nur dafür, versteht sich, denn der nächste Fall schließt sich gleich nach der Werbung an. Ein fünfzehnjähriges Mädchen trägt ein Schild um den Hals: “Ich bin rotzfrech, lüge und stehle.” Sie wird von ihren Klassenkameraden gehänselt und gefilmt. Sie könnte einfach weglaufen, wenn sie nicht mit Kabelbindern an einen Laternenmast gefesselt wäre. Anwohner haben die “Ruhestörung in der Mittagszeit” gemeldet, wieder kommt die Ordnungsmacht. Das sei, befindet Poli, “unter aller Kanone”. Zisti: stimmt zu. Das Mädchen ist nicht begeistert von der Befreiung. Sie sei noch unter der Dreistundenfrist. Poli: versteht nicht recht. Zisti: stimmt zu. Man sucht gemeinsam die elterliche Wohnung auf. Poli befindet angesichts des Zustands der Behausung, dass hier wohl gestern eine “wilde Party” stattgefunden haben müsse. Zisti: stimmt zu. Auf dem Sofa bewegt sich was. Es ist die Frau Mutter im kompletten “Morning-After”-Habit, zerzaustes Haar, ruiniertes Make-up, fragwürdig sitzende Kleidung, die die Vermutung entrüstet von sich weist. Hier sähe es immer so aus. Sie käme ja mit dem Balg nie zum Feiern und habe sich jetzt gerade nur eine kleine Ruhepause gegönnt. Ob sie denn eine Vermutung habe, wer ihrer Tochter das “angetan”* haben könne, mit der Laterne und dem Schild und den Kabelbindern, will Poli wissen. Zisti: stimmt zu. Natürlich weiß die Frau Mutter das. Sie selbst. Anbinden und drei Stunden so stehen lassen. Denn das sei der einzige Weg, die Rotzgöre zu erziehen. Das wieder findet Poli nicht. Das sei vielmehr Freiheitsberaubung und Beschimpfung, noch dazu gefährlich. Wenn die zum Beispiel einfach wer losbindet und mitnimmt, hmmm? Was dann? Zisti: stimmt zu. Die Frau Mutter auch. Von ihr aus. Dann sei das Dreckstück endlich weg. Mache eh nur Probleme. Poli ist geschulter Erziehungsberater und postuliert “Kinder kommen nie nach einem Fremden, sondern immer nur nach der Mutter. Oder dem Vater.” Zisti: stimmt zu. Die Stimme auf dem Off informiert sonor, dass eine Lösung gefunden worden sei. Mutter macht bei der Krankenkasse Alkoholentzug, Göre zieht in betreute Jugend-WG. Zisti: stimmt zu.
Dann gehe ich raus zum Rauchen und bekomme vom nächsten Fall nur das Urteil mit: “Rüdiger muß wegen Schwerem Raub und Nachstellung zwei Jahre und drei Monate in Haft”. Ich will mich mit meinem Buch ins Nebenzimmer verabschieden. Aber nicht doch. Bleiben soll ich. Und da geschehen wahrhaftig noch Zeichen und Wunder: der Fernseher wird ausgeschaltet. Dafür geht sofort das Radio an. Laut. Da schau her, der Hartmut Engler aus Bietigheim-Bissingen hat dem Virus ein Lied geschrieben. “Keiner will alleine sein”. Wisset Se, Herr Engler, das hängt ja immer auch von der Situation ab. Angenommen, ich hätte die Wahl zwischen PUR-Konzert und Allein-auf’m-Sofa… Aber lassen wird das. Welches Problem teilt jener Herr nun zwischen Mireille Mathieu und Udo Jürgens mit der Welt? “Mama, ich liebe anders”. Der “Herr”, informiert mich meine Mutter, sei Patrick Lindner und bei dem sei das wie bei Jens Spahn und würde ihr ü-ber-haupt nichts ausmachen. Meine Fresse, da hat die Toleranz aber Einzug gehalten ins SWR-4-Land. Eine Tasse hätten wir auch beinahe gewonnen, aber dann doch nicht, weil ich bei Andrea Berg nicht textsicher war. Schade eigentlich, konstatiert meine Mutter, dass keines ihrer Kinder ihren Musikgeschmack geerbt habe, mein Bruder höre ja auch nur “Heggelmeggel”.
Dann wird es dunkel und das Frühabend- und Abendfernsehprogramm brechen über meinem Elternhaus ein. In der Nacht fallen 10 Zentimeter Schnee und verwandeln Garten, Treppe und Einfahrt in ein Winterwunderland. Ich bin, wie immer bei Schneefall, erst einmal persönlich beleidigt, und tue dann etwas, was ich seit mindestens 10 Jahen nicht getan habe: ich schippe, kehre, streue und erfahre rückkehrend von der (hihi) “Kehrseite” des Winters. Kann wegen durchnäßter Halbschuhe nicht richtig drüber lachen.
Auf der Heimfahrt kontempliere ich den Umstand, dass Isolation seit Corona nicht mehr als soziales Unvermögen, sondern volksgesundheitsförderliches Wohlverhalten gilt und lasse mir von Lutz Görner das ganze Heinesche Wintermärchen rezitieren.
Eltern gesehen, Heine gehört. Dafür lohnt sich Quarantäne. Und jetzt würde ich gerne zügig geimpft.
* “Angetan” wird in diesen Sendungen ständig jemandem etwas. Im allgemeinen umschreibt man damit zielgruppentauglich eine Vergewaltigung.