Meine Oman-Lektüreliste hat mich auf eine veritable Zeitreise durch England geführt, beginnend mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.
Sir Arthur Conan Doyle, den wir alle als Erfinder des Gentleman-Detektivs Sherlock Holmes kennen, war in seiner Zeit so sehr viel mehr und Barnes läßt uns in einer wunderschönen Sprache daran teilhaben. Barnes zeigt, wie Doyle seinen Holmes, wiewohl er ihm schnell ein kleines Vermögen geschaffen hatte, bald satt hatte. Auf diese eine Figur seines literarischen Schaffens wollte er nicht reduziert werden, also läßt er ihn an den Reichenbachfällen sehr schön dramatisch sterben (nicht, ohne ihn irgendwann des Geldes wegen wieder auferstehen zu lassen), um sich auf seine anderen Interessen zu konzentrieren: Naturwissenschaften, neue technische Entwicklungen und Fortschritte, Medizin für Körper und Seele, Spiritualismus – es war eine großartige Zeit für Wissendurst, jeder Tag brachte neue Entdeckungen. Als ihn ein kleiner Provinzanwalt auf einen Justizskandal aufmerksam macht, ist Doyle sofort Feuer und Flamme. Das, sieht und sagt er, war ein Fehlurteil und muss aufgehoben werden. Dafür kämpft er, mit aller Leidenschaft und unter großem Einsatz von Mitteln und Einfluss. Barnes, den ich sehr schätze, illustriert mit der Wahl dieses auf einem wahren Ereignis beruhenden Motivs, wie alt und hartnäckig beständig Rassismus im englischen Rechtssystem war und ist. Lesen! Lesen! Lesen!
Wir gehen noch ein wenig zurück in der Zeit, in die vierziger Jahres des 19. Jahrhunderts und wechseln den Schauplatz, hin zu den Kolonien. Nicht zu denen mit der Tea Party, wohin man die schwarzen Schafe der guten Familien auslagerte, nein, zu den noch wilderen Territorien, hinter den großen Seen, nach Kanada. Auch Atwoods Geschichte basiert auf einem tatsächlichen Verbrechen. Die 16-jährige Grace ist angeklagt Anstifterin/Mittäterin bei einem blutigen Doppelmord an ihrem Dienstherren sowie dessen Haushälterin/Lebensgefährtin gewesen zu sein. Die junge Frau hat bis zu ihrer “Sweet Sixteen” schon eine Biographie, die für manche Leben zwei Mal reichen würde. Sie wächst auf als eines von vielen Kindern eines gewalttätigen saufenden Vaters und einer erschöpften ausgelaugten Mutter im Irland der Kartoffelfäulen, immer hungrig, immer schon zu harter Arbeit, weit über ihr Alter hinaus, angehalten, immer schon mit mehr Verantwortung, als ihrem Entwicklungsstand angemessen ist. Ihr Onkel zahlt die Überfahrtspassage für die vielköpfige Schar (nicht aus Altruismus, sondern wohlkalkuliert: sie in Irland mit durchzufüttern wäre teurer gewesen), die Mutter verreckt noch auf dem Schiff, in den unerträglichen Bedingungen unter Deck und wird gleich dort, ins zweitbeste Laken gewickelt und beschwert, “seebestattet”.
Wie es weitergeht, erfährt der Leser unter anderem aus Briefen. (Oh, die Briefe, die Atwood erfindet. Man möchte sowas können und einen wunderschönen hochgemeinen Briefroman damit schreiben.) Ein junger Arzt, der eine Anstalt für Geisteskranke gründen will, bekommt im Auftrag eines Kommittees Zugang zu Grace, die mittlerweile im Zuchthaus in Einzelhaft einsitzt. Er will in Interviews ergründen, warum sie hinsichtlich der Tat an Amnesie leidet und ob er möglicherweise Licht ins Dunkel bringen kann. Herrlich, was Atwood aus seinem Schicksal macht, ganz wunderbar, wie sich Graces Geschichte weiterentwickelt. Ich glaube, ich weiß jetzt alles über die “Frauensachen” zu dieser Zeit: Zubereitung von Mahlzeiten, Reinemachen, Wäschepflege, Mode und Näharbeiten. Außerdem über das Ständewesen, die rechtlose Situation von Frauen, Heuchlertum, britische, kanadische und amerikanische Politik und die Entwicklung der Psychoanalyse über den Umweg des Spiritualismus. Es ist wie immer: Atwood muß man lesen! Lesen! Lesen! Dringend!
Wir drehen das Rad der Zeit noch ein wenig weiter zurück… Halt, Stop! Wir sind angekommen. Im England Heinrichs des Achten, Ende des ersten Drittels des 16. Jahrhundert. Hilary Mantel setzt mit “Bring Up the Bodies” da ein, wo wir den Hof bei “Wolf Hall” (s. https://flockblog.de/?p=46952) verlassen haben. Thomas Cromwell hat es mit Skrupellosigkeit sowie einem gerüttelten Maß an Rechtsbeugung, -biegung, -brechung und -verdrehung geschafft: die Ehe seines Königs mit Katharina von Aragon ist annulliert, die gemeinsame Tochter damit bastardisiert und von der Thronfolge ausgeschlossen (war eh nur ein Mädchen), schnell noch rasch von Rom losgesagt und eine eigene Religion mit Heinrich als Oberhaupt ausgerufen und nun endlich… Endlich der Hauptpreis: Königlicher Sex mit Anne Boleyn! Hah!
Aber woran es auch immer gelegen haben mag (an IHM nicht. Am König kanns gar nicht liegen…), Anne schafft auch nur eine kümmerliche Tochter, und wenn sie sich danach an die Produktion des – männlichen – Thronfolgers machen wollen, guckt sie so komisch und dann kann Henry nicht mehr. Hexerei, wahrscheinlich. Weil s.o., der König könnte. Immer. Außerdem, so toll war es dann doch nicht nach der langen Warterei und diese Jane Seymour ist so eine Nette… Croooomwell!
Und Cromwell schafft es wieder. Anklage wegen Verrats. Annullierung. Bastardisierung. Dieses Mal mit Hinrichtung.
Mantel schreibt dieses eine Jahr von Annes Königinnentum wieder so mitreißend und atmosphärisch dicht, dass man hineingesogen wird in diesen Hof und seine Intrigen, obwohl der Ausgang historisch belegt und keine Überraschung ist. Im nächsten Band wird Cromwell auf der Verliererseite stehen. Und geköpft werden. Trotzdem weiß ich schon jetzt, dass es bis zur letzten Seite spannend wird. Zeit nehmen. Lesen! Lesen! Lesen!
So, wir sind schon fast durch, wieder in unserer Zeit und diese Rezension wird kurz. Andy Weir schickt wieder einen Helden auf eine vermeintlich aussichtslose Selbstmordmission in ferne Galaxien. Der aber “scienced the shit out of it” (sorry, das geht auf Deutsch wirklich nicht) und kommt zu einem, soweit darf man bei Weir spoilern, supersagenhaft positiven Ergebnis, wenn auch ganz anders als erwartet. Das verfilmen wir jetzt mit Matt Damon in der Hauptrolle vom Blatt und fertig.
Wer nicht auf die Verfilmung warten will, soll durchaus lesen. Weir schreibt witzige pointierte Science Fiction, mit Betonung auf Science. Ich habe viel gelernt und einen Höllenspaß gehabt. Soviel, dass ich, vor die Wahl gestellt, ob ich am Abreisetag noch frühstücken soll oder lieber die letzten 50 Seiten fertiglesen, der geistigen Nahrung den Vorzug gegeben habe. Gute Entscheidung für sehr gute Unterhaltung. Und weil es ein “Barack Obama Book of the Year” war, habe ich mir an manchen Stellen vorgestellt, dass Mr. Ex-President über genau diesen Satz genauso gegrinst (bis hin zu schallend gelacht) hat, wie ich.
Und schon sind wir am Ende meiner Lektüreliste angekommen. Falladas genaues und sehr einfühlsames Buch über ein junges Paar in der Weimarer Republik, das alles richtig macht und an der Zeit scheitert. Man möchte weinen. Ach ja, und man muss es kennen!
Wer wegfahren kann, dann nicht mit Leuten redet und nur viel schwimmt und liest, der ist mit dieser Auswahl für zwei Wochen gut bedient. Wer dableibt, nehme sich ein wenig mehr Zeit. Es ist nicht ein Werk dabei, dass sich nicht viele Male lohnt.