Gestern Abend im Metropoltheater: “Das Achte Leben (Für Brilka)”

Vorrede 1: Meine langjährige Freundin hatte das knapp 1300-Seiten-Buch in den Ferien gelesen und mir schon 2019 ans Herz gelegt. Es liegt, wie viele dieser Ziegelbücher, auf dem Wenn-ich-bald-in-Rente-bin-Stapel und wird sicher gelesen werden.

Vorrede 2: Ich hatte jüngst so eine große Freude an meinem “Blind”-Geschenk (“Sei dannunddann daundda und lass dich überraschen”), s. https://flockblog.de/?p=48802, dass ich die Idee gleich selbst verschenkt und einer anderen Freundin aufgegeben hatte, sich den Nachmittag des 10. Dezember freizuhalten und dannunddann daundda zu sein und sich überraschen zu lassen.

Nun also geht es los. Mit einer Fahrt in der U6 nach Freimann, durch die eklige Unterführung zum Metropoltheater. Dass es funktionieren kann, einen Jahrhundertfamilienroman für die Bühne zu adaptieren hatten wir in den Kammerspielen mit den “Effingers” gesehen (https://flockblog.de/?p=45699). Was die Metropolmannschaft aus ihrer Vorlage gezaubert hat, ist um Klassen besser.

In der Pause wissen wir nicht, was mehr berührt ist. Hirn? Herz? Bauch? Jede Beschreibung der Eindrücke aus der ersten Stückhälfte mündet darin, dass wir irgendwann die Hand unbestimmt zum eigenen Oberkörper führen, weil Worte fehlen. Was für ein Geschenk! Wie überaus großartig, welches Universum dieses Ensemble, bestehend aus sechs Frauen, zwei Männern und einem eigenartig androgynen Gerd Lohmeyer, der die Matriarchin Stasia spielt, in 22 verschiedenen Rollen auf der eher kargen Bühne erschafft. Mit welcher Kraft, welchem Sog sie das Publikum in den Anfang des zurückliegenden Jahrhunderts zum Kaukasus ziehen, ins kleine Georgien und zum erwachenden großen sozialistischen Bruder, der Sowjetunion. Alles, was auf der weltpolitischen Bühne geschieht, hat in diesem ersten Teil immer einen direkten Effekt auf ein Individuum und damit auf dessen Umfeld und es bleibt einem zuschauend nichts, als mitzuleiden. Immer mehr mit den Frauen als mit den Männern, die, egal ob Schläger, Soldat oder Politkommissar, seltsam konturlos bleiben.

Es gibt Momente, die brennen sich ein. Ich werde noch eine lange Zeit brauchen, bis mir vor roter Strickwolle und dicken Holznadeln nicht mehr graut. Nichts, gar nichts, ist frei von Gewalt. Die Beziehungen der Erwachsenen nicht, die der Kinder auch nicht. Der Umgang der Obrigkeit mit der Untrigkeit nicht, wie es zwischen den Geschlechtern aussieht, kann man sich in diesem Kontext denken. Doch jede Gewalt, ob jemand zu Klump geschlagen oder vergewaltigt wird, unter Schmerzen gebiert oder die Frucht gegen den Willen der Mutter abgetrieben oder jemand von einem Erschießungskommando niedergeballert wird, zeigt diese Inszenierung mit allen (beeindruckenden) Mitteln der Verfremdung. Der Herr B. aus Augsburg wäre stolz gewesen auf seine Adlaten.

Nach der Pause ist der auch der 2. Weltkrieg zu Ende, der Eiserne Vorhang ist fest geschlossen, gleichwohl bricht im Osten wie im Westen die Jugend auf, diese Welt zu ändern. Doch je länger die Weltgeschichte dauert, desto kaputter werden die Mitglieder dieser Familie. Jeder trägt am schweren Ballast der Vergangenheit und an seinen Toten. Obwohl die Bilder und das Schauspiel für sich sprechen könnten, werden die Dialoge länger, erklärender. Hier zerfasert die Inszenierung ein wenig, da wäre eine halbe Stunde weniger mehr gewesen.

Trotzdem. Die Ausstattung hat sich, wie so oft im Metropol, wieder selbst übertroffen. Einfach, minimalistisch, auf den Punkt. Die Mitglieder des Schauspielensembles sind einander wohltuend ebenbürtig, und wenn ich einen hervorheben darf, dann Patrick Nellessen, dessen eher bullige Physiognomie ihn auf einen Rollentyp festzulegen scheint, den er aber permanent (in insgesamt sieben Rollen) aufbricht. Und die Musik wieder. So unauffällig und leicht hineingewoben, dass mir oft erst hinterher auffiel, was ich da gehört hatte.

Keine leichte Kost und ohne Selberdenken geht es nicht. Das war eine Vorstellung, die mir ständig wieder ins Gedächtnis gerufen hat, dass während der Pandemie Fußball okay und Kirchen offen waren, aber Theater nicht. Dabei brauchen Menschen das. Ja. Das. Das Theater als moralische Anstalt. Ich bin froh und dankbar, diese Inszenierung erlebt haben zu dürfen.

So. Un-be-dingt anschauen! Anschauen! Anschauen!

Hier gibt es Karten: https://www.metropoltheater.com/aktuell.html

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