Gestern im Literaturhaus: Ein Abend mit Jens Bisky zu seinem jüngsten Buch “Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934”

Angenehm unaufgeregt von Niels Beintker (BR) moderiert, bespricht Bisky, warum Berlin eben nicht Weimar ist und analysiert den herrschenden Alarmismus sehr schön als “historische Analogien auf Speed”.

Das anwesende Publikum war offensichtlich ein sehr gebüldetes und nickte und brummte immer zustimmend, wenn Bisky es einmal wieder mit einem “Wie wir alle wissen…” dazu animierte. Schon schön, wenn das Bildungsbürgertum im eigenen Saft mariniert und wie man sich einig ist, wenn die “geschichtspädagogischen Glöckchen” läuten…

Ich habe wieder viel gelernt über eine Zeit, von der ich viel zu wissen glaube und noch viele Lücken zu fülllen habe und freue mich schon auf die Lektüre von Biskys Buch und das Abarbeiten seiner Literaturempfehlungen.

Gelesen: Tim O’Brien – “America Fantastica”

Ich weiß noch gar nicht genau, was ich da gelesen habe. Wild. Absurd. Fantastisch. Ein Road-Book (wenn es Road-Movies geben kann, dann gibt es auch Road-Books, Ende der Diskussion) in bester Tradition eines Geschichtenerzählers wie Mark Twain.

Amerika ist befallen. Von “mythomania”. Einem Phänomen, das Lügen, Betrügen, Schummeln, Falsch-Sein zur neuen Religion erhebt. Wobei, Religion ist schon wieder verkehrt. Zutreffender vielleicht: Regel. Fake News über “Wahrheit”. Ja, “Wahrheit” steht bewußt in Anführungszeichen.

O’Briens buntes Häuflein an conmen und -women, jeder und jede auf seine und ihre Weise der Wahrheit abhold und in unterschiedlichen Graden amoralisch stoßen wie Billardbälle an- und wieder auseinander. Jede Begegnung bizarrer als die nächste in diesem einen Jahr, in dem sich die Amerikaner Trump zum 45. Präsidenten wählen und dessen Unfähigkeit und Covid das Land verheeren.

Der Inhalt, in ganz kurz: ein Fast-Pulitzer-Preisträger heiratet die Prinzessinen-Tochter eines Industrie-Räuber-Barons. Es geht nicht gut aus und das Buch beginnt damit, dass er eine Bank überfällt. Und eine Geisel nimmt. Die er nicht mehr loskriegt…

und ab jetzt: selber lesen. Schön ist das nicht. Lohnt aber.

Für eine Handvoll Euro

(Man denke an eine nicht zu kleine Hand und Papiergeld.)

Jetzt bin ich seit fast zehn Jahren wieder in Deutschland, was sich unter anderem darin manifestiert, dass Personalausweis und Reisepass Ende April ablaufen. Weil ich ja ein vorausplanender Mensch bin, mache ich mich im Vorfeld kundig, wie denn die Verlängerung zu bewerkstelligen sei. Gar nicht, wie ich erfahre. Muss alles neu gemacht werden. Hmmm. Und wie? Ganz einfach. Bloß in einem der sechs Bürgerbüros München einen Termin vereinbaren, Ausweisdokument und aktuelle Passbilder mitbringen und schon ist es soweit (nach einer Bearbeitungszeit von vier bis acht Wochen).

Klingt wie die leichteste Übung, einen Termin online zu vereinbaren. Man glaube mir: das ist es nicht. Eine Verabredung im Bürgerbüro hat ungefähr die Qualität des Kaufs eines Adele-Tickets. Featuring Madonna. Und Taylor Swift. Tagelang den Zeigefinger hart auf dem Refresh-Knopf. Irgendwann klappt es. Und zwar gleich für den nächsten Vormittag und auch noch im nächstgelegenen “City government office”.

Es bleibt sogar noch komfortabel Zeit, vorher Fotos machen zu lassen. Kein Problem, auf dem Weg ist ein Drogeriemarkt. Knips und fertig. Nichts da. Die Fotografieranlage ist seit einer Woche kaputt und nein, auf der Website informiere man darüber nicht. Okay, wo dann? In einer anderen Filiale, drei U-Bahn-Stationen weiter? Dieses Mal bin ich klüger und rufe vorher an. Es handelt sich offensichtlich um eine Seuche, Maschin ebenfalls kaputt.

Mist, so langsam schmilzt mein Zeitpolster. Eigentlich will ich mit Sundar Pichai nichts mehr zu tun haben (von wegen “Don’t be evil”), aber ich frage jetzt den Google Mops – die kapitalistische Logik gebietet doch, dass sich Nimm-deine-Passfotos-gleich-mit-Geschäfte rund um das Kreisverwaltungsreferat ansiedeln, vor allem, weil dort die günstigen Automaten noch für ein paar Monate außer Betrieb sein werden. Seuche, ich sags ja.

Isso. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Fix fotografiert, fix drei Mal soviel bezahlt wie in der Drogerie, und schon bin ich im Wartebereich 03 und warte, dass meine online reservierte Nummer angezeigt wird. Wie angekündigt, muss ich trotz Termins eine Wartezeit einplanen. Ist aber erträglich, ich hab ein Buch mit und kaum erscheint die Nummer, geht alles ganz schnell. Ich habe es mit einer reizenden jungen Dame zu tun, in unter zehn Minuten habe ich mich ausgewiesen, ein Bild abgegeben, zwei Mal mit Zeigefinger und Daumen gedrückt, schon habe ich meine Abholnummern und die Rechnung in der Hand und verlasse die Behörde um gut 100 Euro ärmer.

Für die nächsten 10 Jahre kann ich meiner Ausweispflicht nun wieder nachkommen. Wenn die Bundesdruckerei der ihren genügt haben wird. Im Laufe der nächsten vier bis acht Wochen.

Gestern Abend im Hoftheater: David Berlinghof – “Wohlfühlprogramm”

Ja, richtig, ich war da schon mal, s. https://flockblog.de/?p=50112. Und nein, Herr Künstler, es ist nicht langweilig, ein zweites Mal zuzuschauen. Erstens habe ich mir, wie versprochen, Freunde mitgebracht, die zum ersten Mal in den Genuß kamen und zweitens lohnt das Programm immer noch.

Der Einstieg war vielleicht ein bissele steif, aber das hat sich spätestens ab der dritten Nummer verspielt, das Publikum war wieder so sehr und gerne dabei – Wohlfühlprogramm eben und die Wahrhaftigkeit, wenn Schiller und Arendt aufs Tapet kommen, berührt immer noch.

Wenn mir die Regie das nächste Mal früher Bescheid sagt, komme ich auch gerne mit noch mehr Freunden zum dritten Mal wieder.

Gelesen: Margaret Atwood – “Murder in the Dark”

Irgendwann in nicht zu ferner Zukunft werde ich mit Atwoods Gesamtwerk aufgeschlossen haben. Inzwischen muss ich schon weit in die Vergangenheit reichen, um noch Neues zu finden, wie jetzt mit dieser Sammlung aus den frühern Achtzigern. Und dann stellt sich heraus: so neu ist das nicht. Atwoods Gedanken treiben sie schon lange um. Gewalt. Sexismus. Die Zerstörung unserer Umwelt.

Schon damals, in diesen kurzen Vignetten, die sich teilweise lesen wie glasklare Beschreibungen von Alpträumen, gelingt ihr, was sie heute, mit vielen vielen Jahren Schreiberfahrung und -routine zur Meisterschaft gebracht hat: Grauen in wenige Worte zu fassen und es dann der Lächerlichkeit preiszugeben.

Lesen!