Gelesen: Hervé Le Tellier – “Die Anomalie”

Stell dir vor, ein Flugzeug landet nach schweren Turbulenzen heil und sicher am Zielflughafen. Einfach, haben wir alle schon erlebt. Stell dir weiterhin vor, dasselbe Flugzeug, besetzt mit derselben Crew und denselben Passagieren, ersucht gute drei Monate später wieder um Landeerlaubnis und auf einmal gibt es sie alle doppelt: Maschine und Menschen, nur dass den im Juni gelandeten die Zeit zwischen dem Landetag im März und dem ihren fehlt. Das ist neu.

Schöne Idee. Le Tellier macht daraus einen wilden Parforceritt. Sein Buch ist gleichermaßen der feuchte Traum eines jeden Nerds, ein Action- und Spionagethriller einmal um die ganze Welt, mit Abstechern in die hohe und niedere Politik, Philosophie und Religionen. Er weiß viel, hat noch mehr und gründlich recherchiert, nur mit dem Zeichnen von Menschen tut er sich schwer, besonders bei Frauen. Mich hat das stark an Eschbach erinnert, dessen Geschichten auch immer eine ungeheure Sogkraft haben, in denen die Protagonisten aber ebenfalls mehr wie Spielsteine funktionieren müssen.

Dennoch, das Lesen lohnt. Allein wegen der Denkanstöße. Warum ist es zu dieser Anomalie gekommen? Wie geht welche politische Macht damit um? Wie reagieren die Betroffenen auf ihr zweites Ich? Welches Leben ist danach möglich? Vor allem diese letzte Frage treibt den zweiten Teil des Buches.

Wer Freude an popkulturellen Referenzen hat, wird hinreichend bedient – das dürfte die Anomalie in 10 Jahren schwierig und in 50 nur noch mit vielen Fußnoten lesbar machen. Le Tellier erlaubt sich außerdem einen Jux. Er erfindet einen Schriftsteller, Victør Miesel, der ein Werk namens “Die Anomalie” schreibt, aus dem der Autor Le Tellier bei Kapiteleinleitungen zitiert. Das ist nett. Die Übersetzung ist gewöhnungsbedürftig. Absätze wie dieser sind die Regel, nicht die Ausnahme: Der amerikanische Präsident verharrt reglos, wie betäubt. Der Mathematiker betrachtet diesen primären Menschen, und er fühlt sich in seiner niederschmetternden Vorstellung bestärkt, dass die Addition individueller Verfinsterung selten zu kollektiver Erleuchtung führt. (Wenn es denn an der Übersetzung liegt. Angesichts der Häufigkeit beschlich mich der Verdacht, dass es sich um Le Telliers Schreibstil handeln könnte.)

Lesen! Nachdenken. Weiterlesen.

Gelesen: Pat Barker – “The Women of Troy”

Nun hat Odysseus’ Trick mit dem vermaledeiten Holzpferd doch funktioniert und Troja ist geschlagen. Die männliche Bevölkerung abgeschlachtet, alles von Wert geplündert, die Stadt und ihre hohen Türme niedergebrannt. Die restliche Beute, Frauen und Mädchen, werden an die Soldaten verteilt. Aristokratinnen gehen an die Feldherren, das niedere Volk an die Mannschaftsgrade.

Wieder erzählt Briseis, die wir schon aus dem ersten Band kennen (s. hier: https://flockblog.de/?p=47585). Die Figur war mir ans Herz gewachsen, ich habe mich gefreut, sie wieder zu treffen, wobei sie Barker dieses Mal zu sehr als kluges und edles Ideal geraten ist und weniger als auch fehlbarer Mensch. Schade. Sonst? Sonst sind vor allem die Protagonistinnen wieder sehr geglückt, die Männer eher holzschnittartig, was nicht nur ihrer Profession als Eroberer geschuldet ist. Sie und ihre Befindlichkeiten sind Barker einfach nicht so wichtig, oder nur insoweit, als sie das Leben aller Frauen in ihrem Werk von Grund auf verändern.

Wieder sind wir im Feldlager, nunmehr vor den rauchenden Trümmern Trojas, und statt endlich als Sieger die Heimfahrt nach Hellas anzutreten, stecken die Eroberer wegen widriger Winde fest. Liegt wahrscheinlich daran, dass man die Götter irgendwie erzürnt hat. War’s die Vergewaltigung der jungfräulichen Priesterin Kassandra im Tempel? Zu wenig oder die falschen Opfergaben? Dass Achilles Sohn, der Schlachtenführer, dem Leichnam des von ihm abgeschlachteten trojanischen Königs Priamus die Begräbnisriten verweigert? Was ganz anderes?

Wie Barker das auflöst und dabei die politischen Intrigen zwischen den, außer wenn es gegen andere geht, böse verfeindeten griechischen Stämmen bloßlegt, und nebenbei gegen organisierte Religion schießt, das ist hohe Schreibkunst und erfreulich unterhaltsam.

Lesen! Lesen! Lesen!

2024 ist das Erscheinen des 3. Teils geplant. Zurück in Griechenland. Wie reagiert Penelope, wenn Odysseus sich um 10 Jahre verspätet? Was machen Klytämnestra, ihr Liebhaber und ihre Kinder, wenn Agamemnon als persönliches Kriegssouvenir die Seherin Kassandra als Zweitfrau präsentiert? Und wie geht es mit Briseis weiter, die zu Ende des 2. Bandes im 5. Monat mit Achilles’ Kind schwanger ist?

Fehlzündungen

Aus dem Schreiben eines Geschäftspartners: “Die Geschäftsführung hat aufgrund des durchgewachsenen Jahres nur eine Erhöhung um 0,2 Prozentpunkte hinzugerechnet.”

Gelesen: Franziska Gänsler – „Ewig Sommer“

Bevor ich mit der inhaltlichen Rezension anfange, Kompliment und Dank an den Kein&Aber-Verlag, der ein wunderschönes handliches Büchlein besorgt hat. Mit schönem Satz, ansprechend gestaltetem Schutzumschlag, gutem Druck und Bindung, Lesebändchen und alles.

Super, schon wieder zwei Sätze lang vor der Kritik gedrückt. Es ist aber auch echt schwer. Mit Gänslers Schreibstil muss man sich anfreunden, und bei Sätzen wie “An den Rändern dieses Lächelns saß eine gewisse Zurückhaltung […]” ist das nicht ganz leicht. Nichtsdestotrotz erzeugt die Geschichte einen gewissen Sog, wohl wegen der wachsenden Bedrohung und der unausweichlich scheinenden Katastrophe.

Die Hitzewelle ist seit Monaten ungebrochen, der Wald am gegenüberliegenden Ufer des Flusses Bruch brennt schon den ganzen viel zu langen Sommer. Die Besitzerin des letzten noch geöffneten Hotels im früheren Luftkurort Bad Heim beobachtet das Feuer mit lakonischer Sorge und hält sich ansonsten an die Regeln: Masken tragen, Wasser rationieren, Aufenthalt im Freien vermeiden, Flammen kommen nicht über den Fluß. Hingegen regnet es Asche, Ruß und Qualm dringen in jede Öffnung, in und an allem haftet der Gestank von Rauch.

Eines Tages kommen unangekündigt eine Frau und ihre kleine Tochter an.

Gänsler entwickelt vor dem Hintergrund der ewigen gnadenlosen Hitze und der zunehmend schlechteren Luft ein ungewöhnliches Beziehungsgespinst, taucht tief in Vergangenheiten und Psychen und dieses letzte bißchen Hoffnung, das den Homo sapiens noch immer am Leben gehalten hat – nur um schließlich alles zu zerstören.

Nach ein paar Tagen Nachwirkzeit kann ich sagen: man liest das mit Gewinn.

Landlust

“Der Herrgott hat”, wie ein lieber Freund von mir zu sagen pflegte, “einen großen Tiergarten”, womit er ausdrücken wollte, dass jeder Jeck anders jeck ist und die Menschheit im großen Ganzen sowie auch im Kleinen und Halben einfach einen Vogel hat. Deswegen, und nur deswegen, gibt es eine Zielgruppe für die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift “Landlust”.

Ich bin am Wochenende bei Freunden, zu denen sich die aktuelle Ausgabe verirrt hatte, zum ersten Mal auf das Blatt gestoßen. Es beschäftigt sich mit folgenden Themen:

So, wie alle davor, und alle danach, bis ans Ende der Zeit (also dem Tod der letzten Printausgabe. Und dann gehts online weiter, bis der letzte Server abraucht.).

Weil der Frühling kommt, müssen wir basteln. (So, wie wir das auch im Sommer, Herbst und Winter sowie allen Zwischenjahreszeiten tun.) Österliche Türstopper im Huhnundhahndesign, Häschen und Möhrchen in Strick, Häkel, Filz und Origami. Weidenkränze, bemalte Töppe, bestickte Kissen, bestickte Schürzen, bestickte Wärmflaschen, bestickte Waschlappen.

Mein persönlicher Favorit waren Flamingo-Eierbecher. Für die muß man zunächst “nur” drei Teile häkeln, diese “mit ein paar Stichen” zusammen- und dann Restfäden wieder vernähen. Danach noch einen Pfeifenreiniger mit der pinken Flamingowolle umwickeln, außer ganz oben, dort mit schwarzer und weißer Wolle einen Schnabel erzeugen. Dann, man ahnt es, geht die Zusammen- und Vernährerei wieder los. Anschließend auf den Pfeifenreiniger “mit ein paar Stichen” Augen sticken und den in dieses Dreiteilewolldings einnähen. Es gibt das ganze auch in Schwan und jedes Familienmitglied sollte beim Osterfrühstück die Auswahl haben dürfen. Waahaa?

Es handelt sich hier übrigens nur um eine Auswahl möglicher Bastelarbeiten, frau kann sich ja nicht alles merken. Und selbst bei dieser reduzierten Menge, wäre ich, wenn ich mir sowas antäte, noch nicht einmal bis Ostern 2025 fertig.

Aber eigentlich geht es gar nicht ums Basteln. Nein, auch nicht ums Kochen oder Garteln oder Stricken oder was auch immer. Nein, die Zeitschrift ist quasi ein gedruckter Shopping-Kanal. Alles, was das Herz begehrt, jeder Topf, jedes Gartenschäufelchen, auch die rosa Flamingowolle steht zum Verkauf und wird flugs und ab einer signifikanten Menge versandkostenfrei geliefert. Schön ist das. Und so praktisch.

Die Redaktion hat nichts zu tun, außer verbindende kurze und kurzweilige Texte zwischen Werbeblöcken zu produzieren, die Leserinnenschaft (nein, ich gendere hier nicht!) ist ihrem Blatt treu verbunden und mitteilsam. (Man braucht ja bei all der Bastelei auch mal ein Päuschen.) Angesichts der Bastelbegeisterung und den vielen “eigenen Ideen” ist die Angst um den Fortbestand der Menschheit absolut ein angemessenes Gefühl.

Am schlimmsten oder anrührendsten, da kann ich mich nicht entscheiden, sind die Bekanntschaftsanzeigen. Fünf Stück. Nur Sie sucht Ihn. Nicht ganz günstig. Welcher Mann liest das, wenn Zeitschriften wie “Beef” am selben Kiosk ausliegen? Was geht in einem Hirn vor, das sich als “Hübsches Mädchen, 41 J., 169 cm, 53 kg” präsentiert und vom gesuchten “treuen Mann” (sonst nix, treu langt) Zuschriften an “justyna1981@t-online.de” erheischt? Definitiv eine Rechenschwäche, aber Hauptsache “hübsch”. Dieses Unwort. Auf sich selbst anzuwenden. Aber nein, Frau flockblog, ruhig bleiben.

Die sich über viele Seiten ziehenden Kleinanzeigen preisen ein Sammelsurium aus Esoterik-Dreck, Kunsthandwerkscheiße, Nahrungsmittelergänzungsmittelchen gegen Krebs und andere schreckliche Krankheiten, Kräuterpädagogen, Bronzefiguren, Schnitzmüll und so weiter und so fort an. Ganz und gar grauselig.

Ahaber: Nie alles so schlecht, dass es nicht auch sein Gutes hat:
Wenn ich einmal alt bin und mir fad ist, werde ich ein paar solcher Druckwerke kaufen und dann daraus Lesungen veranstalten. Und zwar bei den Bastelnachmittagen, die eine offensichtlich sadistisch veranlagte Leserbriefschreiberin im Altenheim veranstaltet.

Vorhin im Volkstheater: Jazzrausch Bigband – “Goethe’s Breakdown”

Die Angelsachses haben in ihrer an Vokabeln eh so reichen Sprache eines meiner Lieblingsworte erfunden: “Serendipity”. Was soviel bedeutet wie “zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist”. Quasi “glücklicher Zufall”, aber mit etwas Goldstaub.

Jaja, ich komme gleich zum Konzert. Moment noch. Erst noch die Vorgeschichte.

Ich war nämlich am Wochenende bei Freunden eingeladen, die mich mit dem österreichischen Künstler Parov Stelar bekanntmachten, einem DJ und Produzenten. Dieser hatte irgendwann die sehr schöne Idee klassischen Zwanziger-Jahre-Swing mit einem harten Technobeat zu unterlegen. Tanzbar bis zum Morgengrauen. Die helle Freude! Was? Ja, wir gehen gleich ins Volkstheater. Mensch. Lass die Tante doch fertig erzählen. Also habe ich am Samstagabend mit Parov Stelar einen ganz einen neuen Groove entdeckt.

Dann Sonntagabend. Auftritt von Künstlern, die mir sehr Liebes vereinen. Den Göthe. Ihm seinen Faust. Und Jazz. Vor dem Vorhang steht Bandleader Roman Sladek und führt ein. Man sei eine Techno-Bigband, feiere demnächst das Neunjährige, was die “Bestandskunden” (großes begeistertes Gejohle) ja wohl wüßten, die “Neukunden” heute hoffentlich überzeugen und zu Bestandskunden machen werde. Man habe sich Goethen angenommen und den Faust nun auf technobigbandisch interpretiert. Es gehe um die großen Fragen: Der Mensch. Wieso? Weshalb? Warum? Was kann er? Was will er? Und ist er am Ende bereit, die Rechnung zu bezahlen?

Und dann geht der Vorhang auf und für die nächsten zwei Stunden toben vierzehn Vollblutmusiker und Vollblutmusikerinnen über die Bühne (auf dem Heimweg in der U-Bahn mitgehört: “De an der Tuba. Des war a Frau. Vogelwuid!”). Keine Minute ohne Bewegung, der Bum-Bum-Bum-Techno-Bass überwältigt den ganzen großen Raum, die ersten springen von den Sitzen und grooven mit, zum Schluß sind es fast alle. Atemberaubende Soli (der Schlagzeuger. Hach! Und alle anderen. Genauso Hach!), Tempo, Tempo, Tempo. Die Sängerin rezitiert den “Teil von jener Kraft” und das eine oder andere plakative Zitat aus dem “Faust”, Gretchens “Ruh ist hin”, wie immer – aber die Textanteile gehen im allgemeinen Musikrausch unter. Mir fehlt das, meinem Begleiter nicht. Wer also keine Ahnung von deutscher Klassik hat, aber Bigbandswing mit Techno unterlegt gerne hört und sieht, der ist dort sowas von genau richtig. Aber sowas von!

Und wenn das jetzt kein gelungenes Beispiel für Serendipity ist, dann weiß ich aber auch nicht.

Hingehen! Leertanzen!

Gegenwartsliteratur

Die ZEIT widmet sich in ihrer Ausgabe vom 8. Februar hinter der Bezahlschranke der Frage nach den “neuen Klassikern” und stellt “38 bedeutende Bücher unserer Gegenwart” vor, ausgewählt von “jungen Journalist:innen und Schriftsteller:innen”.

Ich bin ja eher als Boomer tätig und finde, die jungen Menschen hier haben kollektiv einen an der Waffel. Warum genau soll ein Buch “weh tun”? (“Es gibt Bücher, die tun beim Lesen so weh, weil es kaum um Gefühle geht.”) Wieso muss es einen beim Lesen “schmerzen”? Welchen lesenden Lustgewinn werde ich erfahren, wenn sich der Protagonist “seine Herkunft wie Fetzen von der Haut” reißt? Ist es wirklich nötig, dass in so gut wie jedem der ausgewählten Werke schlimme Traumata behandelt werden? Und warum sind die bloß alle so wütend? (“Ihre Wut dabei lässt die Sprache explodieren und ist die Antwort auf die Ohnmacht, die die Gesellschaft ihr wie ein Korsett anziehen will.”)

Ich weiß es nicht, schlimmer, ich will es auch nicht wissen. Der Kommentar des/der Forist/in roggenbruehe #1 spricht mir aus der Seele: “Wenn die beiden einzigen bücher, die ich von der liste gelesen habe, in mir fremdschämen ausgelöst haben, bin ich wohl nicht zielgruppe. Danke für die warnung.”

Da ich gerade mal drei (3) Werke, also unter 10% auf dieser Liste als für mich mäßig interessant und lesbar, wenn nix besseres greifbar ist, identifiziert habe, wüßte schon gerne, welche beiden…

Meine neue Brieffreundin

Letztes Jahr, es teuert aller Orten:
3 Mal Post von den Stadtwerken
3 Mal Preise rauf. Mir fehlen echt die Worten.
Beiseite: Kann ich was für den falschen Plural? Nein, kann ich nicht.
Strom ist jetzt 3 Mal so teuer, und nu?
Kann ich ja gleich nach Baku
umziehen, will ich aber nicht. Alsu
bleibt: im Dunkeln hocken, kalte Küche, dicke Socken…
Nix is, gar nix, mit Frohlocken.

Ein neues Jahr, ein neuer Brief,
noch vor dem Öffnen weiß ich, das geht schief.
Beiseite: Aber was weiß ich schon?
Tapfer Brief auf und – da schau:
Sie wollen die Preise senken, nicht heben,
Zum Wohle aller, Mann, Kind, Frau.
Licht an! Mehr Licht! Besseres Leben!

Gestern Abend im Prinzregententheater: “TAO The Light” (formerly known as “Trommelsamurai”)

Da wartet man eine Pandemie und zwei Verschiebungen lang auf den Besuch eines Geburtstagsgeschenks, von dem sich weder der Schenkende noch die Beschenkte mehr genau erinnern, welcher das gewesen sein könnte… Darüber ist aus den “Trommelsamurai” “TAO The Light” geworden und (sehr wahrscheinlich) derselbe Mist geblieben.

Nun also: Trommeln in der Nacht, eine ganze Bühne voll. Und was zeigen die Samurais und Samuretten? Eine Art Stomp meets Le Cirque de Jenesaisquois featuring Dschinghis Khans Kung-Fu Panda. Schwer Off-Off-Off-Vegas. Es hüpft und springt und stampft und trommelt und flötet da vorne, athletische Menschen in Fetzenröcken mit wahlweise knappen Glitterbustier (dann in Rot) oder Lederimitatamazonenoberteilen (jeder nur einen Schulterstrap) präsentieren eine krude Mischung aus Travestie, Akrobatik und rythmischer Sportgymnastik mit Bändern. Dazu, falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte, Trommeln in allen Größen sowie gelegentlich Flöten und noch gelegentlicher eine Shamisen, wohlgemerkt die elektronische Version, die jeder anständigen Geisha die Zehennägel aufgerollt hätte.

Die Choreographie? Hmmm. Viel Gehüpfe, viel Gerenne, viel Gestampfe, viel “Hu”- und “Ha”-Gebrülle und dann… Überraschung: Aus einem Stock werden zwei. Huiuiui! Nach dem 3. Mal hat man sich an dem Effekt schon ziemlich sattgesehen. Es hört aber nicht auf. Weil, jetzt, wo sie zwei Stöcke haben, trommeln sie wieder.

Man könnte, wenn man denn wollte, über kulturelle Aneignung philosophieren, das Schlimme aber ist: es lohnt nicht. Das Ganze war nicht richtig schlecht, aber weit weit entfernt von gut. So gerade mal Schulterzuckeinseitigesnaserümpf. Meh. Kunsthandwerk halt. Ein Abend für den Etsy-Fan. Der und sein weibliches Pendant waren denn auch in Massen angetreten und hochenthusiasmiert. Standing Ovations, Stampfen, Bravos, Pfiffe (die guten), Jubel allerorten.

Auf uns, die wir ohne jede Erwartung, jedoch grundsätzlich wohlwollend unsere sehr guten Plätze sehr mittig im Parkett eingenommen hatten, wirkte die Begeisterung a bissele befremdlich, aber, wie wir uns mehrfach gegenseitig versicherten (irgendwie muss man so einen Abend ja auch rumkriegen), die Geschmäcker sind halt mal verschieden. Manchmal sehr. Außerdem bleibt uns immer noch der nachabendliche Verriß im flockblog. Sowie die Erinnerung an den arg knappen rosa String-Tanga der Dame im Sitz vor uns – hingerissen vom Rhythmus hampelte sie so dermaßen herum, dass das Dessous ständig aus der knappen Lederhose zu springen drohte. So eine Lingerie-Show vertreibt die Zeit auch sehr schön.

Aber sie haben ja nicht nur getrommelt und gepfiffen, nein, auch die Sprachschöpfung kam nicht zu kurz und kulminierte in dem Begriff, den die Oberste Samtunte in ihrer Abschiedsansage höchstens 17 Mal wiederholte: “WÜNDERBAR!”

Es ist ja nie immer alles schlecht. Auf dem Heimweg hatte ich Riesendusel und erwischte die allerletzte U-Bahn, die ohne das Baustellenzughopping bis zur Endstation durchfuhr. Und so ist es doch noch ein sehr schöner Abend geworden.