Das ist mal ein gutes Buch!
Ich habs ja sonst nicht so mit guten Vorsätzen, aber ich sollte wirklich anfangen mir zu notieren, woher und von wem Leseempfehlungen kommen. Könnte ja sein, dass aus der Ecke noch mehr Schätze zu heben sind…
Worum geht’s? Einfach: Die Ilias. Neu erzählt aus einer weiblichen Perspektive. Der Perspektive der Briseis, einst Königin von Lyrnessos. Im Jetztzeit-Wikipedia wie folgt definiert: “Briseis ist eine Figur aus Homers Ilias. Die Tochter des Brises und Gattin des Königssohnes Mynes war die Lieblingssklavin des griechischen Kriegers Achilleus. … Sie wurde von Achilleus während des Trojanischen Krieges … erbeutet und als Sklavin und Konkubine zugesprochen … und durfte [später] darauf hoffen, Achilleus’ Ehefrau zu werden. Der Heerführer Agamemnon nahm Achilleus Briseis [wieder] weg…”
Der Trojanische Krieg ist in seinem 10. Jahr, die Griechen belagern die gesamte Küste und brechen gelegentlich zu neuen Raubzügen in die Troja benachbarten Städte auf, das Buch beginnt:
“Great Achilles. Brilliant Achilles, shining Achilles, godlike Achilles … How the epithets pile up. We never called him any of those things; we called him ‘the butcher’.”
[“Großer Achilles. Brillanter Achilles, strahlender Achilles, gottgleichr Achilles … Stapelweise Beinamen. Wir nannten ihn nie mit auch nur einem davon, wir nannten ihn “den Schlächter”.]
Als der Überfall auf Lyrnessos vorbei ist, alle Kämpfer, Greise und Knaben dahingemetzelt, Speicherhäuser geleert, Möbel, Preziosen, Felle, feine Tücher, Kelche, Teller und Kochgeschirr aus Häusern, Tempeln und Palästen geplündert und in die Bäuche der Schiffe geschleppt sind, bleibt als letztes vor dem Niederbrennen der ausgeschlachteten Stadt nur noch das Schänden und Versklaven ihrer Frauen und Mädchen. Ihres Status als Individuen sind sie verlustig gegangen. Sie sind nur noch Teil der Beute und so wird Briseis dem Achill als “Ehrenpreis” verliehen.
“What can I say? He wasn’t cruel. I waited for it — expected it, even — but there was nothing like that, and at least it was soon over. He fucked as quickly as he killed, and for me it was the same thing. Something in me died that night.
I lay there, hating him, though of course he wasn’t doing anything he didn’t have the perfect right to do. If his prize of honour had been the armour of a great lord he wouldn’t have rested till he tried it out: lifted the shield, picked up the sword, assessed its length and weight, slashed it a few times through the air. That’s what he did to me. He tried me out.”
“Was soll ich sagen? Er war nicht grausam. Ich hatte darauf gewartet – es sogar erwartet -, aber es war nichts in der Art, und zumindest war es schnell vorbei. Er fickte so schnell wie er tötete, und für mich war es das selbe. Etwas in mir starb in jener Nacht.
Ich lag da, hasste ihn, wiewohl er natürlich nichts tat, was ihm nicht zustand. Wenn sein Ehrenpreis die Rüstung eines großen Feldherrn gewesen wäre, hätte er keine Ruhe gefunden, bis er sie ausprobiert hätte: den Schild angehoben, das Schwert genommen, Länge und Gewicht beurteilt und es ein paar Mal durch die Luft geschlagen. Das tat er mit mir. Er probierte mich aus.”
Barker läßt Briseis als Ich-Erzählerin aus dem – naturgemäß – männerdominierten Feldlager erzählen. Von Frauen, die wegen ihres Alters oder Aussehens oder warum auch immer keinen Schlafplatz in den Frauenhütten bekommen und ihr Essen auf den Müllhaufen zusammensuchen müssen, von anderen, die dem Stockholmsyndrom erliegen und wieder anderen, die sich lieber töten, als noch einmal vergewaltigt zu werden. Von denen, die an den Kochfeuern, den Wäschereien, den Feldhospitälern Zwangsarbeit leisten. Und von den Männern, verroht durch den langen Kriegseinsatz und einen mörderischen Begriff von “Ehre”, frustriert und gelangweilt, die untereinander pubertär anmutende Gemeinheiten austauschen (Nimmst du mir meine Sklavin weg, nehm ich dafür eben deine. Gut, dann spiele ich aber nicht mehr mit.), aber auch zu tiefen Männerfreundschaften fähig sind. Und von Seuchen, die ohne Vorbehalte töten.
Erst spät kommt auch Achilles als Erzähler zu Wort. Fast poetisch reflektiert er seinen nahenden Tod.
Das Schlußwort jedoch bleibt Briseis vorbehalten. Eine tiefe Einsicht in die Rezeption ihrer Geschichte durch die Nachwelt. Denn, Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger.
“I thought: Suppose, suppose just once, once, in all these centuries, the slippery gods keep their word and Achilles is granted eternal glory in return for his early death under the walls of Troy …? What will they make of us, the people of those unimaginably distant times? One thing I do know: they won’t want the brutal reality of conquest and slavery. They won’t want to be told about the massacres of men and boys, the enslavement of women and girls. They won’t want to know we were living in a rape camp. No, they’ll go for something altogether softer. A love story, perhaps? I just hope they manage to work out who the lovers were. His story. His, not mine. It ends at his grave.”
“Ich dachte: Was wäre, wenn nur einmal, nur ein einziges Mal in all diesen Jahrhunderten, die aalglatten Götter ihr Wort halten und Achilles im Tausch gegen seinen frühen Tod vor den Mauern Trojas ewigen Ruhm gewähren…? Was werden sie von uns denken, die Menschen in dieser unvorstellbar fernen Zeit? Eines weiß ich sicher: Sie werden nichts von der brutalen Realität von Eroberung und Versklavung hören wollen. Sie werden nicht hören wollen von Massakern an Männern und Jungen, von Versklavung von Frauen und Mädchen. Sie werden nicht wissen wollen, dass wir in einem Vergewaltigungslager lebten. Nein, sie werden etwas Netteres haben wollen. Vielleicht eine Liebesgeschichte? Ich hoffe nur, dass sie ein passendes Liebespaar finden. Es wird seine Geschichte sein. Seine, nicht meine. Und sie wird enden mit seinem Grab.”
Das Buch ist, wie schon gesagt, gut. Sprachgewaltig. Klar. Klarsichtig. Die Lektüre berührt und hinterläßt Spuren. Sehr gut wäre es geworden, wenn Verlag und Lektorat sich ein bißchen mehr Mühe gegeben hätten und die Autorin vor Lieblingsformulierungen und Wiederholungen bewahrt hätten. Vielleicht sind sie mir nur deshalb so unliebsam aufgefallen, weil ich es in einem Zuge durchgelesen habe. Aber dann fragt mich halt in Zukunft. Zefix.
Eine deutsche Ausgabe ist unter dem Titel “Die Stille der Frauen” erschienen. Die Qualität der Übersetzung kann ich nicht beurteilen, die oben sind von mir.
Lesezeit: Ein (1) Samstag, abzüglich ein bißchen Haushalt und etwas Sozialleben.
Lesen! Lesen! Lesen!