Ich hab’s ja nicht so mit Musiktheater, ob nun Oper, Operette oder Musical; es ist halt nur ein Breitgesinge von Gefiehlen. Andrerseits: ab und an sollte man seine Vorurteile auf ihre Gegenwartsbezogenheit hin überprüfen. Jürgen, dem meine Bildung sehr am Herzen liegt, hatte Karten fürs zeitgenössische Musical besorgt, “Wicked”, im San Franciscaner Orpheum-Theater; einem schönen, schnörkeligen, altmodischen Guckkastentheater, mit einer Decke wie geplatzte Furunkel, Stühlen mit roten Samtbezügen, einem jener Teppichböden, bei denen man sich immer fragt, an welcher Augenkrankheit der Designer gelitten hat und einer Nische mit Zier-Urne, die die Asche vorangeganger Hexenverbrennungen birgt.
Es handelt sich um ein Prequel zum “Zauberer von Oz” und beschreibt den Werdegang einer kleinen Hexe zur “Wicked Witch of The West”. Die übliche Außenseiterstory; Mädchen wird nach Fehltritt der Mutter mit grüner Hautfarbe geboren. Keiner mag sie, selbst und gerade der Gouverneurs-Vater zieht die jüngere Schwester (im Rollstuhl) vor – aber: Mädchen ist ungeheuer begabt, ein Hexennaturtalent und gewinnt dadurch Achtung und im Internat den kieksenden, blonden rosarüschenkleidchenausfüllenden Marilyn-Verschnitt als “room-mate”. Und dann singt, tanzt und springt sich die Compagnie mit vielen Kostümwechseln durch eine Geschichte voller Mißverständnisse, in der der grünen Hexe alle gut gemeinten Dinge mißraten, bis sie darüber schließlich zum bösen Weibe wird. Weil es aber ein Musical ist, wird die Verbrennung der Hexe nur vorgetäuscht und das Ende zum Happy -End (mit liebendem Gatten) umgebogen.
“Wicked”, so Leo, steht für “abgefahren [ugs.], böse, boshaft, cool [sl.], gefährlich, geil [sl.], schelmisch, schlimm, stark [sl.] verrucht [form.]”; alles Attribute, die gute Mädchen nicht haben. Die kommen, wie man weiß, auch nur in den Himmel…
Vorher hatte ich Gelegenheit, den Amerikanern beim Restkartenverkauf zuzusehen. Das ist nicht so eine langweilige Angelegenheit mit am Kassenhäuschen Schlange stehen. Nein, das wird zum Wicked-Event gemacht. Die Karten-Aspiranten füllen ein Kärtchen aus, Kärtchen kommt in eine Glastrommel mit Kurbel und um Punkt 6pm fängt der Moderator mit der Verlosung an. Der erste Glückliche Gewinner ist Yang-Suk Kim, er wird wild beklatscht und bejubelt, und nach Vorlage seiner Photo-ID darf er, begleitet vom Theaterfachpersonal zur Kasse gehen, die ID nochmal zeigen und dann 2 Karten à 25 bucks (cash only) kaufen. Ja: er gewinnt das Kaufrecht. Nicht etwa die Karten. So geht das munter weiter, bis alle Karten an den Mann oder die Frau gebracht sind und ca. 5 Menschen in Theateruniformen ihre Arbeitsplätze für einen weiteren Tag gesichert wissen.
Für nächste Woche haben wir uns in Ashland (Oregon) Shakespeares “Macbeth” ausgesucht. Ich erwarte, dass weder gesungen noch getanzt wird.
