Gelesen: Pat Barker – “Toby’s Room”

Dieser zweite Band in der “Life Class”-Trilogie ist noch stärker als der erste. Barker stellt vor allem Fragen. Wie geht Trauer richtig? In einer Zeit in der Väter, Söhne, Onkel, Neffen, Cousins, Liebhaber, Klassenkameraden, junge, junge Männer reihenweise niedergemäht werden. Ist der Tod vielleicht eine Gnade? Wenn die Verletzungen durch Gas oder Schrapnelle so furchtbar entstellend, entmannend, verkrüppelnd sind, dass der Anblick des Überlebenden weder sich noch anderen mehr zugemutet werden soll / will / kann. Wieviele Arten zu sterben gibt es? Eine Bombe, ein Scharfschützenschuß, den der Gefallene noch nicht einmal kommen hört? Verschüttet sein? Das qualvolle Ende eines langen Lebens als Patriarchin, Mutter und Großmutter. Ans Bett gefesselt, auf Hilfe angewiesen, voller Grauen vor den nunmehr nicht mehr kontrollierbaren Körperfunktionen (erschwert durch die Erziehung zur Dame im England vor der letzten Jahrhundertwende).

Wir kennen die Protagonisten, Schüler eine Malereiklasse aus dem ersten Band. Und die große Frage: Welche Rolle spielt Kunst? Ist sie angesichts eines Weltenbrandes überhaupt noch von Bedeutung? Oder erst recht? Die jungen Männer, mehrenteils Pazifisten, entziehen sich doch nicht der vermeintlichen vaterländischen Pflicht und werden Sanitäter. Und genauso an der Front verheizt wie ihre waffentragenden Brüder. Und die Frauen? Ist das Herstellen von Kunst wichtiger als die innere Florence Nightingale zu channeln und Verbände zu wickeln? Als alles aufzugeben und die sterbenskranke Mutter zu pflegen? Das Urteil der Familie aus der sogenannten guten Gesellschaft ist offensichtlich: Drei ihrer Gemälde in der Tate Gallery, nicht eines im Elternhaus.

Schließlich, die englische Klassengesellschaft. Ein Krieg, der gemeinsame grausame Feind, die gemeinsame Zeit im Dreck der Schützengraben: das muss die Klassenunterschiede doch mindestens verwischen, wenn nicht aufheben? Spoiler Alert: Nein.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Ich bin schon wieder weiter, im dritten Band: “Noonday”. Die Überlebenden haben darin zu einem Leben gefunden, traumatisiert, trauernd, hinkend, entstellt, aber doch mit Optionen auf ein kleines privates Glück. Nur kurz. Wie das so ist mit dem kleinen privaten Glück. Der Hunne ist wieder erstarkt, es ist Herbst 1940 und London brennt.

Nun gilt es aufzuholen, liebe Leserin, werter Leser des flockblogs und zu lesen, lesen, lesen!

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