Gestern Abend im Olympiastadion: Rammstein “Europe Stadium Tour 2023”

Die Luft brennt, der Boden bebt (wer weiß schon vorher, wie sehr Beton vibriert, wenn 60.000 Menschen stampfen?), es wummert und dröhnt, zehntausende Kehlen schreien sich heiser. Rammstein.

Frau hält sich an die im Vorfeld versandte dreieinhalbseitige “Information für Besuchende” und steigt kurz vor 18:00 Uhr (Einlass ist ab 15:30) in die U-Bahn mit Kleinsthandtäschchen sowie aus “sicherheitstechnischen Gründen lediglich einer PET Flasche bis maximal 0,5l Inhalt (nichtalkoholisch und original-verschlossen)”.

In der Bahn wird es zunehmend dunkler, die schwarze Fan-Kleidung der anderen Passagiere absorbiert jeden Lichtstrahl sowie den Minimalbestand an Restsauerstoff. Im Olympiastadion angekommen, läßt frau sich von der schwarzen Flut mittreiben, aus der nur gelegentlich für die zwei Foto-Ops (a) Brücke über dem Mittleren Ring mit Stadion im Hintergrund, b) Gegendemo*) kurz ausgeschert wird. Manche, auch ich, machen ein Bild von den zahllosen Hinweisen Richtung “Trouble-Shooting”.

Kurz vor dem Eingang mache ich auf einer Bank Rast, schaue Leute und bin bass erstaunt, wie heterogen das Publikum ist. Altgediente Klischee-Metal-Veteranen mit dicken Bärten und Bäuchen in Bekenner-T-Shirts (Wacken, Ring, Park, Roskilde, Sonstwo; Iron Blood, Fist, Maiden, Guns N’ Roses, Metallica, ACDC), Fans jeden Alters in allen Konstellationen. Paare, gemischten und gleichen Geschlechts. Klein- und Großgruppen, in bayerischer Tracht, in Kilts, im Bischofsgewand mit hoher Mitra, umgeben von Meßdienern – alles. Wirklich alles und vor allem Fan-Merch-T-Shirts, von der aktuellen Tour bis weit zurück in die Band-Tour-Vergangenheit. Ich weiß nicht warum, aber am meisten überrascht war ich von den Familien, Vater, Mutter, halb- bis ganzwüchsige Kinder, häufig der ganze Trupp im Partnerlook. Bis mir dann meine Physiotherapeutin, Mitte 20, einfiel, deren Vater der “totale Rammstein-Fan” sei und sie deshalb deren Musik höre, “seit sie denken” könne. Klar, dann passt das auch wieder. Ich bin einfach bloß alt.

Gut, nun aber rein und durch Massen und die Kontrollen die scheußlichen Treppen bis zu meinem Sitzplatz unterm Dach hochgekämpft. Wie alle geschworen, dass ich während des Konzerts auf keinen Fall Durst haben oder gar aufs Klo gehen werde. Auf keinen Fall.

Während sich das Stadion füllt und füllt (insgesamt werden bei diesen vier Münchner Vorstellungen vier Rosenheims mit Mann und Maus dort gewesen sein) und die Wettergötter der Angelegenheit gnädig gesinnt nicht nur eine milde Abendsonne, sondern auch ein stetes leichtes Lüftchen über diesen schwarzen Block streichen lassen beginnt der erste Teil des Rammstein-Rituals (nachfolgend “RR”). Auf einer kleinen, seitlich vor der großen Bühen plazierten Bühne spielen zwei Damen an zwei Klavieren Rammsteinweisen. Schlecht und breiig abgemischt gehen sie im großen Menschendröhnen fast unter, dennoch erklingt in den Pausen zwischen den Stücken Beifall. Gehört dazu. Ist so. Muss so sein. Als sie fertig sind (noch 20 Minuten bis Rammstein) berauscht sich die Menge mit Sitzgymnastik an sich selbst und treibt Ola um Ola durch das Stadion.

Dann geht es los. Mit dem “Rammlied” (RR). Der Block, in dem ich sitze (und sitzend zuzuhören gedachte), steht ab der ersten Note wie ein Mann, gröhlt textsicher mit und reckt Arm und Hand zum Teufelsgruß (RR). Es wird nicht das letzte Mal an diesem Abend sein, dass mir Goebbels Sportpalastrede in den Sinn kommt. Sämtliche weiteren Nummern, unterstützt von einer wahnwitzigen Licht- und Pyroshow, balancieren auf dem schmalen Grat zwischen Gigantomanie und gigantisch und die Umgebung spielt mit. Erst spiegelt sich in den Hochhäusern gegenüber und dem Zeltdach über uns ein fast überirdisch leuchtender orangeglühender Sonnenuntergang, dann ist es auf einmal dunkel, das BMW-Zeichen aufgegangen und der Olympiaturm von roten Lichterkreisen umschnürt. Lindemann, gelernter Pyrotechniker, fackelt derweil auf der Bühne mit dem Flammenwerfer (RR) einen Kinderwagen (RR) ab. “Puppe” heißt das Lied.

Ganz großes Megahighlight: “Sonne” (RR). Feuerkugeln und -säulen, auf und vor der Bühne – so heiß, ich habe heute noch rote Bäckchen. Und bin immer noch sehr beeindruckt.

Dann verläßt die Band die Bühne (RR), installiert sich auf der kleinen Klavierdamenbühne und spielt zum Licht ungezählter Handytaschenlampen (Wow! Großes Bild) Pianoversionen von “Ohne Dich” und “Engel”, um sich anschließend in Schlauchbooten von der Moshpit zur Bühne zurückbringen zu lassen (RR). Das ist, wie ich mir erklären lasse, auch integraler Bestandteil des Rituals, genau wie die folgenden Zugaben und die Kniefall der Band am Ende. Dann fahren sie gen Himmel (RR) und 60.000 Menschen gehen wieder heim.

Ich habe mich gefühlt, als wäre ich Volkskundlerin und, eingeladen von den Eingeborenen, bei einer Veranstaltung zu Gast, bei der alle Anwesenden außer mir die Regeln kennen. Der erste Vergleich, der mir einfällt, ist eine katholische Messe. Jetzt knien, jetzt stehen, hier sitzen, da dieses Lied singen usw. Ich bin nicht sicher, ob der Funke (hihi) einfach nicht übergesprungen oder meine amüsierte Distanz eine Schutzhaltung ist. Ist auch wurscht. War mal dabei, habs jetzt gesehen, kann aus eigener Erfahrung mitreden.

Dank der nicht namentlich genannt werden wollenden Fotografin “42”. Sie hat für die flockblog-Leserschaft das “Making of” dieses blogposts dokumentiert.

* Ja, natürlich habe ich mich auch gefragt, ob man DA nach den bekanntgewordenen Vorwürfen überhaupt noch hingehen kann. Habe mich dann für das rechtsstaatliche Prinzip entschieden. So lange kein Urteil vorliegt, gilt die Unschuldsvermutung.

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