Geplant hatte ich diesen Lektüreausflug in die griechische Mythologie nicht, aber manchmal ergibt es sich einfach, und dann wird das schon seine Richtigkeit haben.
Atwoods Abrechnung / Interpretation / Neufassung der Odyssee stand schon zu Weihnachten auf meiner Leseliste, aber dann waren der Ablenkungen zu viele und die Ferien zu kurz und deshalb bin ich erst dieses Wochenende dazugekommen, das eher schmale Bändchen wegzuatmen. Allem voran: wie immer atwoodgroßartig! Nobelpreis, yadda, yadda. Irgendwann muss dieses Komitee doch vor meinen andauernden Anrufungen kapitulieren? Dann: wie immer, klarste Sprache, virtuous eingesetzt, flamboyanter Feminismus, Wärme für und Anteilnahme an den Protagonistinnen und Protagonisten – es ist die helle Freude, wie Atwood in die Psyche ihrer Ich-Erzählerin Penelope blicken läßt.
Wir begleiten eine Fünfzehnjährige in ihre arrangierte Ehe und an den fremden Hof in Ithaka, der für sie keine Rolle vorsieht, außer Söhne zu gebären. Dann aber ist der Hausherr im Krieg und nach Kriegsende auf Irrfahrt und sie hält den Laden zusammen und die wie die Geier einfallenden Freier auf Abstand. Mit List und Tücke und unter Einsatz ihres Dutzends selbst herangezogener junge Mägde, die sie prostituiert und als Spioninnen und Agentes provocatrices* einsetzt, kämpft sie um den Erhalt ihrer bzw. des Odysseus Güter und ihrer Tugend, während sie gleichzeitig den inzwischen zum Jungmann gereiften (?) widerspenstigen Besserwissersohn Telemachus sowie höfische Intrigen im Zaum hält. Alles nicht leicht. Aber sie schafft das. Zu welchem Preis? Odysseus kehrt heim, meuchelt die Freier nieder, hängt die Mägde auf (alle zwölf) und ist so lange wieder Chef im Hause, bis ihm fad wird und er zu neuen Abenteuern aufbricht.
Jetzt, wo sie alle tot und in der Unterwelt sind, sucht Penelope nach Antworten. Eine der grausamsten: Die Mägde sind selbst schuld. Warum? Hätte der gastgebende Hausherr sie dem Besuch, wie Mahlzeiten und Nachtquartiere, als “Unterhaltung” zur Verfügung gestellt, wäre der Sex mit den Freiern, ob in Form einer Vergewaltigung oder freiwilliger Hingabe (so freiwillig, wie die Hingabe einer Sklavin an einen Adeligen halt sein kann) quasi aufgrund des Gastrechts legal gewesen. Da aber der Hausherr irrfahren war und die Gattin als Vertretung nicht zählt, wird der Einsatz der jungen Frauen für Ithaka als Kollaboration gewertet. Man möchte schreien ob dieser schiefen Logik!
Atwood präsentiert auch Mythologie gewohnt brillant – allein schon eine Aussage über die Form zu treffen, ist eine Herausforderung. Ein Gesang? Biographieprosa mit Gedichteinsprengseln? Ganz was anderes? Sie selbst nennt es “Scrapbook”, eine Art “Sammelalbum”. Trifft es natürlich am besten.
Weil ein Blick aus dem Fenster mich darin bestärkt, das Haus ganz sicher nicht verlassen zu wollen, habe ich heute früh in warme Decken eingerollt auch noch flugs das auf der Penelopiade basierende gleichnamige Theaterstück (auch aus Atwoods Feder) gelesen. Hätte ich die Theatergruppe einer Oberstufenklasse mit einem hohen Anteil an jungen Frauen zu unterrichten: es wäre das Stück meiner Wahl. Meine Herausforderung an die jungen Menschen würde darin bestehen, es erst einmal zu übersetzen (und zu verstehen) und dann aufzuführen.
Alle anderen sind von dem Zusatzaufwand befreit. Aber bitte lesen! Lesen! Lesen!
Und falls jemandem in meiner treuen Leserschaft so ist, als hätten sie schon einmal Hymnen auf Penelope gehört, dann ist das richtig. Auch die Tölzer Truppe unter Regie der hochverehrten Frau Rothmüller hat dem Odysseus schon mal gezeigt, wo Penelope den Most holt. (Siehe unten.)
* Jaha, hab ich selbst gegoogelt: so lautet die weibliche Form des “Agent provocateur”.