Ich hätte nie gedacht, daß einfach so zu Hause zu wohnen es so dermaßen in sich haben könnte. Klar, ich kann alles ganz alleine, ich mach auch alles ganz alleine, aber in einem Tempo, das eine Weinbergschnecke zu Tränen rühren würde.
Die Badezimmerdetails führe ich nicht aus, man stelle sich einfach alles noch viel umständlicher vor, als man geneigt ist, sich umständlich vorzustellen, das ist schon nah dran. Ich wäre heute früh auch ganz prima ohne die Bonusrunde “Klo verstopft” ausgekommen. Hinkend pümpeln ist eine Erfahrung für sich. Ich brauche sowieso danach meist eine kleine Pause, etwas Stretching, nochmal kurz niedersetzen und vielleicht noch mal ein Päuschen. Heute eine extra Pause, denn dann folgt –
Klamotten anziehen: Unterhose mit dem Grabber auf dem Boden fixieren, Fuß reinheben, mit dem Grabber auf Kniehöhe hochziehen, dann den anderen Fuß (der, mit dem Bein, das ich anwinkeln kann) in die richtige Öffnung bugsieren, hochziehen. Schweißausbruch. Noch einmal wiederholen mit irgendwelchen Jogginghosen. Wieder Schweißausbruch. Und keine 10 Minuten später bin ich “untenrum” angezogen. Der Rest ist ein Kinderspiel, wobei zur Zeit der Inhalt meiner Schränke auf den Kommoden ausliegt, weil bücken und Schubladen aufziehen erst mal noch nicht zu meinen besten Fertigkeiten zählt. Zu meinem Riesenglück haben wir gerade ein Hitzewellchen und das spart mir das äußerst mühselige Anziehen von Strümpfen. Wer das noch nie mit einem Sock-Aid (links) versucht hat, weiß nicht, was ihm entgangen ist (im wesentlichen Verzweiflung, Schweißausbrüche und phantasievolle Flüche.)
Jetzt ist allerhöchste Zeit für Kaffee. Seit ich wieder daheim bin, ist mir erst bewußt, wievieler verschiedener Arbeitsgänge es bedarf, bis endlich Frühstück auf dem Tisch steht. Falls ich beabsichtige, zu essen, ist die eine Variante Müsli (Schüssel aus dem Schrank nehmen, aus dem anderen Schrank ein Müsli aussuchen, sich natürlich für das entscheiden, das noch geschlossen ist. Pappkarton auf, Müslitüte entnehmen, die Schere herbeihumpeln, aufschneiden, in die Schüssel schütten, Tüte zufalten und – mit Tüte – zur Schublade humpeln, in der die Zuklipper sind, zuklippen, Beutel zurück in den Schrank. Weiter zum Kühlschrank, halb vorbeugen, dabei das heilende Bein nach hinten strecken, Milch entnehmen. Mit Milch und Stock zur Schüssel, dran denken, was der Therapeut gestern gesagt hat: bloß nicht hinken, ordentlicher normaler Schrittablauf, Hacke, Spitze, Hacke, Spitze, schön abrollen. Mit der Milch am Spülstein ankommen – was wollte ich gleich nochmal? War so aufs Gehen konzentriert, daß mir alles andere entfallen ist. Genau. Päuschen machen. Nein, nicht, vielmehr, das wars: Jetzt Milch auf Müsli gießen, Löffel rein und zum Tisch hump… nein, gehen. Schritt für Schritt. Abstellen. Zurück. Pappkarton zusammenfalten, ins Altpapier. Und weil es so heiß ist, muß die Milch gleich wieder in den Kühlschrank, allerdings nicht, bevor ich im Vorbeigehen einen reichlichen Schluck in die große Milchkaffeetasse gegeben habe, man ist ja effizient… Tasse auf den Tisch. Hinsetzen. Schweißausbruch. Päuschen. (Kaffee zu kochen ist nicht wesentlich weniger umständlich…)
Die andere Variante ist Frühstück bringen lassen, so wie gestern. Sehr schön. Mit einem Besuch und einem Schwatz verbunden, im Garten, in der Sonne. Anschließend Mittagsschlaf und Kräfte sammeln für den ersten physiotherapeutischen Hausbesuch. Der Mann heißt mit Vornamen Generick – also mehr können einen Eltern doch gar nicht hassen, oder? Und wie jeder Physiotherapeut hat er einen Stammbaum voller Folterer, der bis weit hinter die Inquisition zurückreicht. Ist alles nur zu meinem Besten, ich weiß, aber einen Spruch wie “das tut mir mehr weh als dir” hätte es nicht gebraucht. Das ist pfeilgrad gelogen! Und der kommt die Woche noch zwei Mal… Glücklicherweise ohne seinen Kumpel Pablo von der Verwaltung. Pablo hat es fertiggebracht, während ich schon mit einem Ball zwischen den Knien geklemmt in kaltem Schweiß ausgebrochen bin, mir nur noch “ganz schnell” den “HomeCare”-Vertrag zur Unterschrift vorzulegen. In zwei Exemplaren. Leider auch in zwei Versionen: einmal die von mir bearbeitete und einmal den ursprünglichen Dreimonatsvertrag. Ich bin deutsch. Ich kann “legal”. Der Unterschied ist mir selbst schwitzend und leidend aufgefallen – sehr peinlich für Pablo. Er ist mit tausend Entschuldigungen und beiden Kopien wieder abgezogen und hat sie mir am nächsten Tag um viertel vor acht morgens wieder vorgelegt. Und brav gewartet, bis ich beide, diesmal gleichlautenden Exemplare zwar schlaftrunken aber ganz gelesen hatte, und ihm nun mit gutem Gewissen eines unterschreibe und mitgebe.
Das ist im hiesigen Gesundheitssystem wirklich nervig: Der oh so mündige Patient muß bis zum Nasenkipfele voll mit Drogen am Tag nach der OP mit privaten Reha-Anbietern die besten Konditionen verhandeln und kaum in der Reha angekommen, beginnt das gleiche Spiel mit privaten HomeCare-Anbietern wieder. Ich bin ja noch privilegiert, ich kann im Internet recherchieren und habe meine sieben Sinne soweit beieinander, daß ich Unstimmigkeiten entdecke und korrigieren lassen kann. Wer das nicht (mehr) kann, ist verratzt. Den kostet so ein Eingriff wirklich Haus und Hof. Auch jetzt noch. Der Affordable Health Care Act hat so viele Schlupflöcher für die Große Gesundheitsindustrie gelassen, daß man sich als kleiner Wurscht eigentlich nur mit Expertenunterstützung hindurch navigieren kann. Und das muß sich Joe Sixpack (der hiesige Cousin von Otto Normalverbraucher) erst einmal leisten können.
Mir flattern gerade täglich Rechnungen ins Haus. Vom Röntgenarzt. Vom Labor. Vom Krankenhaus, für die Benutzung des Labors. Vom Chirurgen. Vom Assistenzarzt des Chirurgen. Vom Arzt in der Reha, der einmal kurz die Anzahl der Stiche nachgezählt, und mich dann zum Verbandwechseln eine Dreiviertelstunde rumliegenlassen hat (bis ich selbst aufstand und die Stationsschwester rekrutierte). In der Reha haben sie neben meinen “vitals” ohnehin umgehend das Limit meiner Kreditkarte gecheckt; nicht, daß ich ihnen am Ende davonlaufe. Jeder ist in diesem System ein selbständiger (Sub)Unternehmer. Und jeder will seinen Reibach machen. Verständlich, aber nicht patientenfreundlich oder gar der Genesung zuträglich. Die große Rechnung vom Krankenhaus selbst steht noch aus – ich hoffe aber auf Rabatt, weil ich den Flatscreenfernseher nicht benutzt habe…
Soweit mein Tag mit allen Billen und Unbillen bis ca. Mittag. Wie’s weitergeht folgt im nächsten blogpost. Man möchte ja seine Leser auch nicht zumüllen. Ich werde morgen früh einen Ausflug ins Krankenhaus unternehmen. Selbständig, im Taxi, um die Fäden ziehen zu lassen.
Nur eines weiß ich jetzt schon: daß ich nicht weiß, wie ich all die mir entgegengebrachte “kindness” je wieder gut machen kann.