Gelesen: Uwe Wittstock – “Marseille 1940. Der große Flucht der Literatur”

Die Nationalsozialisten sind seit sieben Jahren an der Macht und überfallen ein Land nach dem anderen. In Frankreich, das viele Intellektuelle für ihre zweite Heimat in Europa halten wollten, kommt Maréchal Pétain an die Spitze, kapituliert vor der Wehrmacht und errichtet in Vichy ein grausames Kollaborateuersregime. Alle, die es nach Frankreich geschafft hatten, versuchen nun, ins freie Frankreich zu entkommen und von da aus irgendwo hin. Wenn man sie dort denn aufnehmen will. Vorerst werden die Fremden im vorauseilenden Gehorsam in Internierungslager eingewiesen und Listen angelegt. Gerade das Hoffnungsland Amerika wird zunehmend abweisender. Schriftsteller? Mit Nobelpreis? Ja, das ginge. Aber wer sich politisch engagiert hat, Sozialist, Kommunist, Stalinist war, oder Sozialdemokrat, das reicht schon, hat keine Chance. Manchen gelingt es, sich dem Zugriff durch Selbstmord zu entziehen (Hasenclever, Benjamin), aber weil sie sich mit der Dosierung nicht auskennen, werden das elende Tode.

Wittstock gelingt es, herauszuarbeiten, mit welchen teilweise trivialen Themen die Fliehenden zusätzlich belastet waren und wie zehrend diese sein konnten. Wenig bis kein Geld, weil Deutschland die Einkommensquellen gekappt hatte und damit ein steter Kampf um ein Dach über dem Kopf und irgendwas zu essen; Lügner und Betrüger, die alles verprechen, von falschen Papieren bis zu Schiffspassagen und dann mit dem letzten bißchen Geld verschwinden; Paare, die nach Geschlecht getrennt interniert werden und einfach nur herausfinden wollen, wie es dem anderen geht; heranwachsende Kinder (Familie Seghers), die bitte ansatzweise eine Schulbildung bekommen sollen. Und dazu nur schlechte Nachrichten aus dem Heimatland, Krieg, Nahrungsmittelknappheit und ein ewiger Kampf gegen menschenverachtende Bürokratie.

Zu Ende des Buches zitiert Wittstock eine derer, denen die Flucht gelungen ist, die Widerstandskämpferin Lisa Fittko: Es “hätte keiner von uns überleben können ohne die Hilfe von Franzosen in jedem Winkel des Landes – Franzosen, deren Menschlichkeit ihnen den Mut gab, diese vertriebenen Menschen aufzunehmen, zu verstecken, zu ernähren.” Nach all dem Schrecklichen tut es gut, auf einer hoffnungsvollen Note zu enden. Der Mensch ist nicht immer nur des Menschen Wolf. Manchmal, und sogar öfter als man glauben mag, ist er seines Bruders Hüter.

Auch dieses Buch ist höchst empfehlenswert. Lesen! Lesen! Lesen! Meins kann entliehen werden.

Andere Länder

Drei große ikeataschenvoll Wäsche habe ich abgehängt und schleppe mich mit meiner Last in den Lift. Treffe dort auf eine Dame, die die vollen Beutel, mich und wieder die Beutel mustert, in denen erkennbar dicke Wollpullover und die gute Bettwäsche liegen. Dann kann sie nicht mehr an sich halten und fragt, ob hier denn nichts wegkomme, also geklaut werde, die Pullis und die Laken nicht, also ob man den Nachbarn diesbezüglich vertrauen könne.

Ich hänge da unten nun schon, man möchte es kaum glauben, seit neun Jahren recht regelmäßig Wäsche auf und ab und nein, es ist nie etwas hinzugekommen oder verschwunden. Das sage ich ihr auch. Dafür ernte ich einen mitleidigen Blick und als sie aussteigt, über die Schulter zurück den Satz “Hob’n Sie Glieck gehabt”.

Jetzt weiß ich, wie man sich fühlen muss, wenn einen andere für einen naiven Dummling halten.

Gelesen: Uwe Wittstock – “Februar 33. Der Winter der Literatur”

Neulich erst hatte ich Anatol Regniers in vergleichbar anekdotischem Stil geschriebenes Buch über Schriftsteller gelesen, die nach 1933 in Deutschland geblieben waren und sich auf unterschiedlichste Weise mit den neuen Machthabern zu arrangieren suchten (s. https://flockblog.de/?p=50286). Wobei schon “arrangieren” wahrscheinlich der falsche Begriff ist und es keinem von uns Nachgeborenen zusteht, über die Beweggründe dieser Menschen unser nachgeborenes Urteil zu sprechen.

Nun bin ich bei Wittstock gelandet, der dieselbe Zeit behandelt und sich mit denen beschäftigt, die “sich samt ihren Wurzeln ausreißen”* mußten und auf den unterschiedlichsten Wegen gerade noch oder auch nicht mehr aus ihrem nun nicht mehr Vater- und Mutterland entkamen. Wer den Kanon deutscher Literatur kennt, kennt die Namen, vielleicht sogar die Namen derer, die im Nachkriegsdeutschland aus dem Kanon herausgebrannt worden waren. Wittstock schafft es, wie auch Regnier, dass man an jedem Schicksal wieder Anteil nimmt.

Obwohl ich mich mit kaum einer Periode der Geschichte so intensiv beschäftigt habe wie mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bin ich immer wieder überrascht, wie sehr fassungslos mich der perfekt organisierte Marsch durch die Institutionen und die Ausschaltung der demokratischen Organisationen unter Nutzung ihrer eigenen Regularien jedes Mal, wenn ich mich wieder damit befasse, wieder macht.

Lest solche Bücher. Redet drüber. Macht was. An wenigen Sätzen ist soviel Wahres dran wie an dem: Wehret den Anfängen!

* s. hier:

Winterreise

Zu den auf Außenstehende eher eigenwillig wirkenden Weihnachtsbräuchen in Rheinland-Pfalz zählt der, die Autobahnzufahrten von ihrer schönen glatten Asphaltdecke zu befreien und stattdessen matschbraune, maximal noch mit schweren Kettenfahrzeugen zu durchquerende Ödflächen zu hinterlassen. Will heißen: “meine” A61-Auffahrt für den Heimweg ist eine schlammige Baugrube. Die davor und danach, sagen die Kollegen, aber auch und erklären mir, wie ich am besten hinterum über die Dörfer zu einer der wenigen noch erhaltenen Zufahrten zur A61 komme. Tssssss. Bitte, Kinder, ich bin offiziell anerkannte ODP, mit gelber Armbinde und allem.

Also, Weg drei Mal erklärt bekommen, drei Mal ein bißchen anderes, vollkommen aufgeschmissen gewesen. Navi im Leihwagen (ein Seat Ibi-th-a, nur echt mit Lispellaut) beauftragt, den Weg zu finden. Das erste Mal mit einem Navi zu tun gehabt, das ebenfalls orientationally schwer geschädigt ist und mindestens 30 km lang versucht, mich dazu zu bringen, zu wenden und auf die Auffahrt zu fahren, die “wir immer nehmen” (vulgo: das Drecksloch). Das Ibi-th-a-Navi ignoriert, stattdessen den Google Mops vom Telefon dazu genommen und nach einer wilden Fahrt durch die Provinz, Dörfchen, schmale Sträßchen, hinauf und hinab kurbeln (ich hasse Serpentinen!!), neblige Wälder, Felder, Auen, Natur halt, Fuchs, Hase, Gute Nacht sowie eine Unzahl von Zäunen, über denen ich in keinem Aggregatszustand hängen möchte, auf die B9 gestoßen. B9 ist gut. Die kenne ich noch aus den Kinderferientagen bei der Oma im Rheinland. Und bevor ich mich jetzt weiter aufrege, dass dieses Deppen-Ibi-th-a-Navi meine ganze Pufferzeit verschlingt, beschließe ich, dass Pufferzeiten genau dafür da sind. Ommmm!

Oh, wie ist es am Rhein so schön. Die B9 verläuft gleich neben dem Fluß, die Orte heißen Bacharach und Lorch und Bingen, auf jedem Hügel Weinberge und drüber, hoch oben wacht eine Burg oder Blondine. Wenn letztere, betreibt sie Haarpflege – im hiesigen Idiom, das die Verlaufsform noch in Ehren hält: “is sisch dat Loreley am Kämmen”. Vater Rhein glitzert in der Morgensonne und tut, was er immer schon getan hat und treibt viel Wasser ruhig gen Meer. Das ist eigentlich wirklich sehr schön, ommmm, aber ich kann gar nicht anders, als nebenher zu kontemplieren, dass die Begriffe “Pufferzeit” und “verpuffen” aus ein und derselben Sprachwurzel entstammen und letzteres sehr aktiv an ersterer nagt.

Bei Bingen wirds weniger landschaftlich, dafür haben der Ibi-th-a und ich wieder eine Autobahn unter den Rädern und fahren bis Mannheim mindestens viereinhalb Minuten vertane Zeit wieder ein. Die verspielen wir aber an Tankstelle Nr. 1, wo heute alle Benzintankstellen wegen ausgebliebener Lieferung gesperrt sind und Diesel ist, glaube ich, für den Kleinen zu mächtig.

Bis ich im Taxi zum Bahnhof sitze, bleiben noch 24 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges und das Drecksding macht keine Anstalten, sich wegen irgendwas zu verspäten. Also hineingestürzt in den vorweihnachtlichen Mittagsverkehr und die mir bis heute rätselhafte Mystik Mannheimer Ampelschaltungen. Außerdem muss man wissen, dass vor dem Mannheimer Bahnhof auch ein riesengroßes Drecksloch ist, genau da, wo früher mal der massiv überdimensionierte Taxistand war. Alles Zeitfresser. Aber ich habe offensichtlich einen Reiseengel, der über mich/mir wacht.

Allerdings, du Engel, hier ungefragt mein Feedback. So knapp war es noch nie: der Zug fährt auf dem Gleis ein, als ich gerade mit der Rolltreppe zum Bahnsteig hochrollere. Für manche Menschen mag das eine Punktlandung sein, mir fehlt mein Ritual, in dem ich Pufferzeit vergeude, Getränk kaufe, durch die Bahnhofsbuchhandlung streune… Aber das ist Jammern auf hohem Niveau, denn jetzt ist alles gut: die Rolltreppe landet genau vor dem reservierten Wagen, der nette Herr von der Bahn hebt mir das Gepäck über die Waggonstufen, der vorbestellte Platz ist frei und irgendwann läuft wer vorbei und verkauft frischgekochten Kaffee. Die Verspätung fahren wir zwar auf dem Weg nach München ein, da isses ja dann auch schon wurscht.

ICH HABE AB JETZT WEIHNACHTSFERIEN! Ommmm.

“In eigener Sache” – Fortsetzung

Erstens und wie immer: Brecht hat recht! (Dieses Mal die Geschichte mit den Plänen, die nie, nie, nie klapppen. S. https://www.youtube.com/watch?v=WENkquBHchM – vom Meister selbst vorgetragen.)

Zweitens habe ich mir in den letzten Tagen die Seele aus dem Leib gekotzt und war schlichtweg nicht reisefähig. Aber morgen gehts los. In echt, bunt und Farbe.

Meine guten Kollegen und Innen haben mich trotzdem mit Zitierfähigem über Wasser gehalten und wie versprochen, kommt auch ihr nun in den Genuß:

Fragt mich meine Lieblingsmillennia, ob ich den Begriff “bu-shi-ko” kenne. Tu ich nicht, habe aber auch nie vorgegeben, fließend Japanisch zu sprechen. Das Internet hilft weder ihr noch mir, also frage ich nach dem Kontext und erfahre, dass ein Bekannter der Eltern solchermaßen seine Nichte beschrieben habe. Der Hunsrück ist klein. Die Nichte kenne ich nämlich, die hat mal bei uns vorgesprochen, war mir aber insgesamt zu naßforsch für das bißchen Fachwissen und hat daher keine Karriere im Unternehmen gemacht. La mia Millennia und ich einigen uns darauf, dass burschikos nicht japanisch ist, sondern nur ein Wort (“Fremdwort”, sagt sie) von früher, aus der Boomerzeit. Ach, Kind.

In eigener Sache

Kommende Woche bin ich wieder, zum vorletzten Mal in meinem Berufsleben, auf Montage im Hunsrück. Ich werde wahrscheinlich nicht viel zum Schreiben kommen, hoffe aber, viel Material zu sammeln, an dem sich meine Leserschaft nach meiner Rückkehr ergötzen möge.

Bleibt mir gewogen.

Gelesen: Nadia Menze – “Zur Anatomie der Karikatur”

Ich lese so nach und nach von meinem Geschenkestapel weg…

Wobei, kurzer Exkurs: ich bin bewundere inzwischen Menschen, die mir einfach unverdrossen weiter Bücher schenken, von denen sie glauben, dass sie mir gefallen werden und dass ich sie bis dato weder kenne noch besitze. Also schon allein dafür erst mal: Vielen Dank an Frau W. aus S. Exkurs Ende.

Nadia Menze war die Lebensgefährtin des inzwischen verstorbenen Martin Perscheid, was man dem Stil ihrer Zeichungen ansieht. Sie hat einen sehr scharfen Blick und eine wunderbar böse Zunge und setzt beides punktgenau ein und um. In diesem Buch nun erläutert sie die Technik. Mit Beispielen. Manchmal fand ichs ein bißchen übererklärt, aber für jemanden, der eine Handreichung sucht und vielleicht selber mal Karikaturistin werden will, wenn sie groß ist, könnte man keinen besseren Grundkurs wählen.

Hier einer meiner Favoriten (aus der Kategorie “Wortspiele”).

Also lesen! Wer mag, kann meines ausleihen. Und nun abschließend noch einmal: Vielen Dank an Frau W. aus S.

Nicht zu Ende gelesen: Janice Hallett – “The Twyford Code”

Bloß weil ich Spaß an Richard Osmans “Tuesday Murder Club”-Schrullen hatte, befand der Algorithmus, ich würde bestimmt auch “The Twyford Code” gerne lesen. Das trifft offensichtlich auf viele andere Menschen zu, denn schon auf dem Einband wird die potentielle Leserin in viel zu vielen Schriftarten und -größen quasi angebrüllt, dass sie da ein Meisterwerk in den Händen halte, dass man auf keinen Fall versäumen dürfe, weil nämlich jede Seite eine helle Freude… Was ein Geschwafel. Nix davon wahr.

Ich schließe mich, nachdem ich das Buch ungefähr nach der Hälfte und zunehmender ungeduldiger Gereiztheit zum Verbringen in den roten Bücherschrank bei der Feuerwehr bestimmt hatte, der Kritikerin an, die mit der Aussage zitiert wird: “Enid Blyton meets Agatha Christie”. Möchte allerdings ergänzen, dass es sich um die literarisch unbegabte Schwester Blytons handelt, deren Blick sich im Zug auf dem Weg zum Speisewagen mit dem einer der vielen Namenscousinen Christies kreuzt.

Nicht lesen.

Alle Jahre wieder…

…veröffentlicht die Süddeutsche Zeitung einen Jahresrückblick in T-Shirts. Mehr oder minder originell, wie es halt mal in der Natur der Sache liegt.

Mein Herz haben sie dieses Jahr mit dem nachfolgenden Modell gewonnen.