Oh tempora

Grad vorhin höre ich im Bayerischen Rundfunk (ja, B2, aber immer noch Bayerischer Rundfunk), dass heute der “sogenannte” “Heilige Abend” sei und man “in den christlichen Religionen” an diesem Tag “die Geburt des Erlösers” feiere.

Dass ich das noch erleben darf.

Neu auf Netflix: “Carry-on”

Ein “Weihnachtsfilm” für diese Dekade, in Nachfolge der “Die-Hard-Reihe”, mit entsetzlich aufdringlicher dramatischer Musik (meine Fresse!) sowie regelmäßigem Einsatz schön leuchtend roter digitaler Countdownanzeigen, die nie bis 00:00 runterzählen können.

Die Geschichte ist (wie gesagt, Die-Hard-Tradition) simpel. Ein böser Mann (Jason Bateman, mit viel Spaß an der Rolle) erpresst einen Gepäckkontrolleur (Taron Egerton, der Eggsy aus den Kingsman-Filmen, sehr nett herausgewachsen seitdem), einen schwarzen Bordgepäck-Rollkoffer mit rotem Bändchen am Griff (merken, das wird wichtig) und dubiosem Inhalt ohne weitere Prüfung an Bord eines ausgebuchten Weihnachtsfliegers zu lassen. Nebenher passiert viel unausgegoren Unlogisches, was aber Anlass zu einer wilden Verfolgungsjagd im hyperdichten Weihnachtsverkehr auf dem notorisch stauigen Santa-Monica-Highway 405 Richtung LAX gibt, einer weiblichen (!) und schwarzen (!) Detective (!) des LAPD in Zivilkleidung mal schnell die Autorität verleiht, den Flughafen zu sperren, und das Ganze ausdehnt auf noch weitere wilde Verfolgungsjagden durch den Bauch des Flughafens und seine Gepäcktransporthighways und schließlich Showdown und alttestamentarisch-gerechte Strafe für den Schurken in einem fliegenden Flugzeug. (Ohne, dass sonstwer zu Schaden kommt und konstant unter sehr unerträglicher Drama-Beschallung.) Das ist dann wieder ein Grund, dass der blutige und verschrammte Eggsy seine Beautyqueen-Freundin (Nora Parisi) herzt und küßt, von der den ganzen Film über keinerlei Schauspielleistung und nur einmal schnell Rennen auf hohen Hacken verlangt wird.

Alles gut ausgegangen? Super! Dann peppen wir doch wegen Weihnachtsfilm noch ein karies-zuckriges Ende (süß, Eggsy mit Baby vor den Bauch geschnallt, so süß) an und dann ist es endlich ausgestanden.

Ich lese dann lieber noch was. Oder mache meine Steuererklärung.

Gelesen: Uwe Wittstock – “Marseille 1940. Der große Flucht der Literatur”

Die Nationalsozialisten sind seit sieben Jahren an der Macht und überfallen ein Land nach dem anderen. In Frankreich, das viele Intellektuelle für ihre zweite Heimat in Europa halten wollten, kommt Maréchal Pétain an die Spitze, kapituliert vor der Wehrmacht und errichtet in Vichy ein grausames Kollaborateuersregime. Alle, die es nach Frankreich geschafft hatten, versuchen nun, ins freie Frankreich zu entkommen und von da aus irgendwo hin. Wenn man sie dort denn aufnehmen will. Vorerst werden die Fremden im vorauseilenden Gehorsam in Internierungslager eingewiesen und Listen angelegt. Gerade das Hoffnungsland Amerika wird zunehmend abweisender. Schriftsteller? Mit Nobelpreis? Ja, das ginge. Aber wer sich politisch engagiert hat, Sozialist, Kommunist, Stalinist war, oder Sozialdemokrat, das reicht schon, hat keine Chance. Manchen gelingt es, sich dem Zugriff durch Selbstmord zu entziehen (Hasenclever, Benjamin), aber weil sie sich mit der Dosierung nicht auskennen, werden das elende Tode.

Wittstock gelingt es, herauszuarbeiten, mit welchen teilweise trivialen Themen die Fliehenden zusätzlich belastet waren und wie zehrend diese sein konnten. Wenig bis kein Geld, weil Deutschland die Einkommensquellen gekappt hatte und damit ein steter Kampf um ein Dach über dem Kopf und irgendwas zu essen; Lügner und Betrüger, die alles verprechen, von falschen Papieren bis zu Schiffspassagen und dann mit dem letzten bißchen Geld verschwinden; Paare, die nach Geschlecht getrennt interniert werden und einfach nur herausfinden wollen, wie es dem anderen geht; heranwachsende Kinder (Familie Seghers), die bitte ansatzweise eine Schulbildung bekommen sollen. Und dazu nur schlechte Nachrichten aus dem Heimatland, Krieg, Nahrungsmittelknappheit und ein ewiger Kampf gegen menschenverachtende Bürokratie.

Zu Ende des Buches zitiert Wittstock eine derer, denen die Flucht gelungen ist, die Widerstandskämpferin Lisa Fittko: Es “hätte keiner von uns überleben können ohne die Hilfe von Franzosen in jedem Winkel des Landes – Franzosen, deren Menschlichkeit ihnen den Mut gab, diese vertriebenen Menschen aufzunehmen, zu verstecken, zu ernähren.” Nach all dem Schrecklichen tut es gut, auf einer hoffnungsvollen Note zu enden. Der Mensch ist nicht immer nur des Menschen Wolf. Manchmal, und sogar öfter als man glauben mag, ist er seines Bruders Hüter.

Auch dieses Buch ist höchst empfehlenswert. Lesen! Lesen! Lesen! Meins kann entliehen werden.