‘Tis the Season

“Gebt, Ihr Leute, spendet reichlich” hört man derzeit allüberall (nächste Woche ist Thanksgiving, in vier Wochen Weihnachten und da besinnen sich die Amerikaner auf ihre “family values” und glauben an rotbackige Äpfel und fröhliche Kinder mit Holzspielzeug vor dem Kaminfeuer). Der Direktor der hiesigen Foodbanks (das entspricht in etwa den deutschen Tafeln) wünscht sich kalte und nasse Tage, denn warme Sonne bringe die Menschen nicht in den “Holiday-giving-frame”. Er hat wohl einen guten Draht zu Petrus, seit Freitagabend regnet es immer wieder ordentlich, inzwischen toben Thunderstorms  und man hört ständig Sirenen. (So nebenbei: hat dieses Haus eigentlich einen Blitzableiter?). Mal sehen, wie das den Spenden-Spirit beflügelt. Die Kaufhäuser sind jedenfalls bestens vorbereitet. Man kann fertig gepackte Pakete mit “canned-food-meals” zu $15, $25 und $50 kaufen und muss nur bezahlen und seinen “Ich bin der Spender”-Namenssticker ausfüllen; der Supermarkt übernimmt das Aufkleben und den Transport zu den Homeless-Shelters und anderen entsprechenden Einrichtungen und die gute Tat hält einen selbst nicht weiter vom Einkaufen ab.

Wer mehr ein Herz für Kinder hat, ist mit “Toys for Tots” gut bedient; man kauft ein Spielzeug (Untergrenze auch hier $15) und läßt es im Kaufhaus. Bei dieser Aktion spielt das U.S. Marine Corps Santas Little Helper und übernimmt zu Weihnachten die Auslieferung an die bedürftigen Kleinen. (Ich weiß auch nicht, warum ich sofort Richard Gere vor Augen habe, der weißbehandschuht in Ausgangsuniform mit “HoHoHo” durch den Kamin rutscht – und unten einem eher enttäuschten Kinde ein verrußtes schmuddelig-zerkrumpeltes Glanzpapierpäckchen mit halbgelöster Schleife in die Hand drückt. HoHoHo.)

Erste Bürgerpflicht in der Season ist natürlich Einkaufen. Geschenke, Dekorationskrempel (einen Salz-und Pfefferstreuer zB, das Salz kommt aus Santas Nase, der Pfeffer aus dem Sack. Dem Geschenkesack. HoHoHo.). Lustige Sachen für drin und draußen (ich wünsche mir für jeden Blinker-Frosty und Lichtlein-Rentiergespann eine CIA-SWAT wie in “RED”) sowie Lebensmittel. Dicke fette tiefgefrorene (“allow 3-5 days for de-frosting”) Riesentruthähne, die auch mal als Schlagwaffe eingesetzt werden (ich fühlte mich an Roald Dahls Hammelkeulengeschichte erinnert), Gallonenkübel voller Saucen, Suppen, Mashed Potatoes (was soll man die Kartoffeln selber stampfen, wenn man das Pulverzeug auch einfach mit Warmwasser anrühren kann), Apple- und Cranberry Sauce – Hauptsache viel, viel, viel. Wie immer vor Feiertagen geht es zu wie vor einer Hungersnot (ich nehme an, das befürchten die meisten tatsächlích, denn an Thanksgiving sind Geschäfte selbst hier mal geschlossen) und einen anrempelnde Amerikaner zischen einem ein halbherziges “Sorry” zu, bevor sie das letzte Toastbrot aus dem Regal an sich reißen. Die armen Trader Joe Mitarbeiter müssen zu ihren Hawaii-Hemden grüne Elfchenmützen tragen und sind in mindestens Vierergruppen (pro Gang) nur mit Auffüllen beschäftigt. An jeder Kasse sind zwei Fachkräfte im Einsatz (Waren scannen und kassieren die eine, einpacken die andere und können bei besonders großen Mengen – wo steht denn geschrieben, dass ein voller Einkaufswagen pro Person das Limit ist? – auf Einpack-Springer zurückgreifen), trotzdem bilden sich lange Warteschlangen. Ich nehme mir fest vor, NIE mehr am Samstag vor Thanksgiving einkaufen zu gehen. Außerdem war das Toastbrot eh aus.

Was macht eigentlich diese Frau da drüben mit der Nikon im Anschlag?  Sie photographiert. Klar. Aber was, um alles in der Welt? Am Samstagnachmittag, in einem übervollen Supermarkt? Ihren ca. sechsjähirgen Sohn. Aha. Wie er sich streckt, um an die Waren oben im Regal zu kommen. Wie er Leute anspricht, damit sie ihm helfen (manche müssen das zwei oder drei Mal machen, bis die Mutter mit dem Bild zufrieden ist). Wie er in die Kühltruhe klettert, um ein Paket tiefgefrorenen Brokkoli zu bergen. Das wird bestimmt mal toll, wenn er seine Freundin mit nach Hause bringt und die sich nach den Nacktes-Baby-auf-Eisbärfell- auch noch die Mein-Freund-fängt-Tiefkühlgemüse-Bilder ansehen muss. Warum tut eine Mutter ihrem Kind das an? Inzwischen sind die Beiden an der Kasse nebenan angekommen. Der Kleine scannt seine Einkäufe ein (und muss natürlich jedes Ding ein paar mal drehen, bis er den Barcode findet). Mama knipst. Die Schlange wird sauer. Der Kleine packt ein, Mama knipst und erklärt, dass es sich hierbei um Geoffreys nächsten altersgerechten Schritt auf dem Weg ins Erwachsenenleben handle: “We plan a meal, we buy a meal, we cook a meal, we set the table, we serve the meal, we do the dishes.” Dann muss er den vollen Wagen, über den er kaum hinaussieht, nach draußen schieben. (Wer hiesige Einkaufswegen und ihre gegenläufigen Rollen kennt weiß welche Sisyphusarbeit das ist.) Die Schlange hat Mitleid. Wahrscheinlich fragen wir uns alle, wann’s bei denen mal was zum Essen gibt. HoHoHo.

Na dann:  Let’s “Embrace the Shopping Season”! (Zitat aus dem Heimwerkermarktprospekt, frisch aus dem Briefkasten heute.)

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