Zur Soziologie des Öffentlichen Nahverkehrs

Wer wissen will, wie eine Zweiklassengesellschaft entsteht, der benutze Schienenersatzverkehr. Hier scheidet sich die Spreu vom Weizen, der Profi vom Amateur.

Wobei sich ein erfreuliches Phänomen zeigt. Die Wissenden, also die Frequent Traveller unter den SEV-Nutzern, nutzen ihre Weisheit, um die Unwissenden zu bilden. Die Standardfrage an den verzweifelten Nichtauskenner lautet im Allgemeinen: “Wo müssen’S denn hi?” und dann entwickelt sich meist eine hilfsbereite Ratgeberrunde, die dem Suchenden Optionen anbietet. Nach dem Motto: Viele Wege führen zur Münchner Freiheit.

Es mag stimmen, dass das ursprüngliche Ziel der MVG nur war, Renovierungsarbeiten an der Strecke vorzunehmen. Der sehr positive Nebeneffekt ist aber auch, dass Menschen miteinander reden, Schwächeren in den eher barrierereichen Bussen die zugänglicheren Plätze überlassen und das alles sehr unaufgeregt und selbstverständlich abläuft. Dem einen oder der anderen entweicht manchmal sogar ein Lob über Logistik und Organisation.

Ich für meinen Teil habe inzwischen Zeit und kann sie vergeuden und finde es gar nicht mehr so schlimm, dass ich die Fahrtzeit in diesen Bussen nicht verlesen kann, weil mir gleich schlecht wird. Stattdessen schaue ich rum und sehe ich, wie allerorten der Frühling mit aller Macht hervorbricht, Bäume, die noch vor zwei Wochen kahl und schwarz waren jetzt im Blütenrausch schwelgen, Grün in allen Schattierungen mein Verständnis der Pantone-Palette erweitert. Und ich sehe Rot. Rot, wie in “rote Bücherschränke”. Allein an meiner Aushilfsstrecke habe ich zwei entdeckt. Und weil (s. o., zum Thema Lob) diese Busse recht zuverlässig eh alle fünf Minuten fahren, steige ich zwischendrin auch mal aus, bringe ein paar Bücher hin, bevor sie sich wieder in meine Regale schmuggeln, schaue die Schränke nebenher auf Findenswertes durch und steige dann halt in den nächsten oder übernächsten oder überübernächsten wieder ein.

Es könnte alles viel schlimmer sein.

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