Meine letzte Woche hätte eigentlich der Auftragsbestätigungssachbearbeiterin einer Auftragskilleragentur gehören sollen. Nicht mir. Ist aber irgendwie in meinem Leben gelandet und prompt kam jeden zweiten Tag ein Anruf mit einer Todesnachricht. Damit kann ich nicht umgehen. Das habe ich nicht gelernt. Wünsche ich keinem. Jetzt bin ich Vollwaise und um einen meiner langjährigsten Freunde ärmer. Nochmal: wünsche ich keinem.
Weil aber der Mensch diese Welt ebenso nackt verläßt wie er sie betritt, bleibt Zeug. Man nennt dergleichen Nachlaß und der umfaßt alles, was der Mensch so in seinem Leben erwirbt, aufbaut, geschenkt bekommt, was wer für ihn malt oder schreibt oder töpfert, die Kleidung, die er trägt (und vor allem die, die er nicht (mehr) anhaben will), die Maschinen und Geräte, die sein Leben leichter gemacht haben, die Möbel, auf denen er sitzt und liegt, und die Möbelwände, in denen er seinen Kruscht aufbewahrt. Wenn er es zu etwas gebracht hat in seinem Leben, der Mensch, dann sind das mehrere Räume auf mehreren Ebenen (vulgo “schaffe, schaffe, Häusle baue”). Wenn die Erben Pech haben, hatte der Mensch raumgreifende Hobbies. Sammeln. Basteln. Nichtswegwerfen.
Das erste, was man als Nachgeborene, außer einer geradezu ehrfürchtigen Hochachtung für die optimale Ausnutzung von Stau- und Überhauptraum mitnimmt (Was wäre die Mama für eine Tetris-Spielerin geworden…), ist der unumstößliche ganz ganz felsenfest sichere Vorsatz, in der eigenen Wohnung demnächst sehr gründlich auszumisten und den verbleibenden Rest überschaubar zu halten. Herrje, was für eine Menge Lebenskrusten da zusammengekommen sind. Klar, manches hat auch für uns nostalgischen Wert. Das Grundschulzeugnis, mit einer kurzen Reminiszenz für die Lehrerinnenhexe mit dem schwarzen Dutt, die mich immer und über die Maßen gefördert und meinen armen kleinen Bruder so gar nicht wohlgelitten hat. Oder die Gesellenbriefe von Papa und Mama. (Übrigens, die ganze Familie immer ein “Sehr gut” in Betragen. In Religion haben wir dann alle Mann nicht so geglänzt.) Oder ein schon ausgebleichter und leicht bröseliger Lebkuchenkarton bis oben hin gestopft mit Fotos, auf denen die Großeltern junge Menschen und die Eltern junge Kinder waren und wir noch nicht einmal geplant. Aber dafür auch Arme voll Bankauszügen aus den Siebziger, Achtziger, Neunziger Jahren. Versicherungsunterlagen von Versicherungen, die längst gekündigt sind und so weiter und so fort. Alles lose. Alles einmal in die Hand genommen und in Summe genug für sechs (6) große blaue Müllsäcke aussortiert. Dabei auf das Phänomen schwäbischer Nachlaßentsorgung gestoßen. Ich habe, was zu nichts mehr nutze war, in die Säcke geworfen. Auch mit Heftklammern dran oder – Gott behüte – in Klarsichthüllen. Mein Bruder ist mehrfach zusammengezuckt <cringe> und hat dann angefangen, alles noch einmal in die Hand zu nehmen und zu trennen. Klämmerchen. Plastik. Hefthaken. In immer andersfarbige Säcke. Wie es sich gehört und damit alles seine Ordnung hat. Es lebe das Land der Kehrwoche! Da schau her, wie doch die Zeit vergeht, wenn man Spaß hat: schon neigt sich der Tag dem Ende zu, draußen ist es noch stockdunkler als den ganzen Tag schon, Schnee fällt und die Straßenverhältnisse werden zunehmend schlechter. Wir verabreden uns für Morgen, da kommen die Schränke dran. Keiner schläft gut in dieser Nacht.
Es enthält dieses Haus fünf (5) größere Schatzsuchzonen nämlich Keller, Erdgeschoß, erster Stock, Speicher, Gartenhaus, die alle, bis auf letzteres kompartmentalisiert sind (vulgo “Zimmer”), womit das Haus in – für seine Gesamtgröße überraschend – sehr viele Einzelschatzsuchzonen unterteilt werden kann. Und muss. Der große Bruder meiner Mutter hatte nicht umsonst vor einer langjährigen Familientradition als Jäger und Sammler gewarnt. Und hatte, wie alle großen Brüder, natürlich recht. Weiah! Dann mal ran, Schränke öffnen. Eigentlich haben wir schon nach dem ersten Raum keine Lust mehr. In den Schubladen, hinter den Schranktüren, auf jedem Regalbrett türmt sich Zeug. Ja, das war bis vor ein Tagen noch gelebtes Leben und Elternhaus, aber auf vielem liegt auch eine dicke Staubschicht. Der Krempel war halt einfach DA.
Aus reiner Notwehr erfinden wir ein Tourismusprogramm. “Ein Tag im Abenteuerhaus” mit fünf Levels und zwei Grundregeln “Wer’s findet, muss es behalten” und “Keine Ebene darf unter 10kg Rausgeschlepptem verlassen werden”. (Für uns gelten die Regeln nicht, wir habens schließlich erfunden.) Was nicht alles auftaucht: Zeugnisse aus dem Leben einer Schnäppchenjägerin. Grußkarten mit der doch eher schwer anwendbaren Aufschrift “Du bist so sexy!” (3 Stück), Schnaps-, Wein- sowie Calvadosgläser, diese sogar mit Deckel, man denke (keiner in diesem Hause hat je Calvados getrunken), viele viele Mehrfachpacks Tesarollen, und alles mit feuerfarbenen Etiketten, die davon zeugen, dass die Ware heruntergesetzt war, vieles noch mit D-Markpreisen ausgezeichnet, das meiste originalverpackt. Außerdem Brieföffner. Und Lineale. In diversen Längen, aus allen möglichen Materialien und nicht einmal immer Werbegeschenke. Bis dieser Räumtag zu Ende sein wird, werden wir 17 Lineale gefunden haben und noch lange nicht alle Levels geschafft.
Als wir mit einem Zimmer durch sind, haben wir eigentlich schon keine Lust mehr. Aber, so spornen wir uns gegenseitig an, für jedes Trum, das einer von uns nimmt bzw. das wir an irgendjemanden weitergeben können, müssen wir dem Entrümpler kein Geld geben. Dergleichen Motivation funktioniert bei Schwaben recht gut. Vielleicht, überlegen wir im zweiten Raum, vielleicht sollten wir uns mit Verhaltenspsychologen zusammentun und ein Messieabschreckungsprogramm entwickeln. Für den Probanden, der es schafft, in einem bestimmten knapp bemessenen Zeitraum die Entfernung zwischen A und B zu bewältigen, ohne an einem faltigen Läufer hängen zu bleiben, gegen irgendeine Baumelampel zu stoßen oder einen wackeligen Setzkasten (der, der diesen Trend erfunden hat, sei hiermit auf ewig verflucht!) abzuräumen, für den besteht Hoffnung. Die anderen müssen was Sperriges mitnehmen und bei sich daheim in der vollen Behausung unterbringen.
Die Küche lassen wir aus. Im ersten Stock angekommen, steuern wir auf das Gästezimmer zu. Zu groß ist die unausgesprochene Scheu vor dem elterlichen Schlafzimmer, aber auch da werden wir schauen müssen. Nur noch nicht gleich. Das Gästezimmer ist eine Schatzkammer für sich. Es ist vollgestopft mit meinen alten Kinderzimmermöbeln, die naturgemäß einmal leer gewesen sein müssen. Ein Zustand, den meine Mutter zu Lebzeiten sicher nicht lange ausgehalten hat und so hat sie diesen Raum in den über 40 Jahren, seit ich wegbin, vollgetetrist. Wir finden im hinteren Schrank, der seit Jahren wegen des davor großgewordenen Bejamins nicht mehr zugänglich ist, eine, zwei, viele Packungen originalverpackter Bettwäsche. In Zweier- (für meinen Bruder) und Einersets (für mich), mit roten D-Mark-Etiketten, in Plastiktüten, die beim Anfassen brechen und vom alten Glanz nicht mehr existierender Kaufhausketten zeugen. Weiah! Noch fünf Schränke und ein Kleiderschrank. Bettwäsche, wohin das Auge reicht. Sehr verschlissen, mittel verschlissen, wir erinnern uns beide, dass wir das eine oder andere Modell schon auf unseren Kinderbetten hatten. Mein Bruder ist Maler. Lappen kann er immer brauchen. Fürchtet allerdings, dass er, wenn er alles nimmt, erst Jahre später als geplant in Rente gehen kann… Ach, und natürlich tauchen auch hier wieder Lineale auf. Man fragt sich. Oder auch nicht. Wir räumen weiter. Im nächsten Schrank Mützen, zum Beispiel das mottenzerfressene Nerzdings von meiner Oma, Schals, viele erkenne ich als meine ungelenken Strickversuche aus der Schulzeit, Handschuhe, davon sehr viele offensichtlich verwitwet, dicke Socken, dünne Socken, Kniestrümpfe, auch alle Einzelkinder – und ja, aus irgendeiner dunklen Hirnecke steigt auf, dass man damals daraus Hundespielzeug gefertigt hat. Tennisball rein, zuknoten, fertig. Wie lange ist der Hund jetzt schon im Hundehimmel? Oh Mann, was denn noch alles? Mein Lieblingsfund in diesem Raum ist eine Plastiktüte randvoll mit leeren (Schmuck-)-Schächtelchen und -Beutelchen und hübschen Zierbändern und Uhren-, Manschettenknopf- und Ringetuis. Hätte man ja alles nochmal brauchen können.
Die Begutachtung der Bücherregale fällt in meine Zuständigkeit. Ja. Nein. Bloß nicht. Ich sollte bei Bertelsmann anrufen, ob deren Archiv an Vorschlagsbänden aus dem Bertelsmann-Buchclub vollständig ist. Wenn nicht, könnte ich aus diesen Beständen aushelfen. Meine Fresse, ich wüßte nicht, dass es außerhalb von Bibliotheken, die sowas vorhalten müssen, noch derartige Mengen laufender Regalmeter Konsalik, Simmel, Danella und Konsorten in dieser Vollständigkeit gäbe. Mein Bruder weiß Rat: sein Unternehmen renoviert viele Kirchen. Die haben Büchertauschstuben. Er wird in den nächsten Wochen viele viele Kisten dort abstellen. Hey, Big Spender!
Wenn wir nicht in den Keller oder auf den Speicher oder gar ins Gartenhaus wollen (wollen wir nicht!), ist jetzt das Elternschlafzimmer dran. Die Aufteilung ist wie zu Lebzeiten: mein Bruder öffnet die Nachttischschubladen auf Mutters Seite, ich widme mich den väterlichen Geheimnissen. Er hat keine, hat aber offensichtlich alles von Wert, das er je geschenkt bekommen hat, in der Originalverpackung aufgehoben. Bloß die gute Uhr nicht tragen oder den neuen Leatherman benutzen, solange es die alten Sachen noch tun. Das mit dem sich selbst was gönnen können hat seine Generation nicht gelernt. Wie schade.
Nun noch das “Ankleidezimmer” (war wohl ursprünglich mal für den Kleinstnachwuchs geplant) und dann sind wir durch. Schränke, in denen ich meine Modesünden aus den Siebzigern wiederentdecke (ist jetzt wahrscheinlich voll Vintage, so ein gelb-schwarz-breitgestreifter Minirock mit Riesensicherheitsnadel), meines Bruders karrrierrrrte Anklippkrawatte aus dem logopädischen Sprachtraining, Berge von Indientüchern (Halloho, Siebziger) sowie jede Menge originalverpackter Geschirrtücher (yup, rote D-Mark-Etiketten) und, ah, doch noch, Bettwäsche. Nicht ein Lineal bisher, aber was ist das jetzt? Tatsächlich, im allerhintersten Eck, ein Bündel Briefe. Liebebriefe. Meines noch sehr jungen späteren Vaters an seine noch sehr junge Freundin, meine spätere Mutter. Die nehme ich an mich. Vielleicht werde ich sie lesen wollen.
Es reicht. Zwei Levels von fünf sind geschafft. Ich spare mir Keller, Speicher, Gartenhaus, kaputte und Reserve-Kaffeemaschinen und -Mikrowellen, Staubsaugerbeutel bis ins fünfte Glied. Nein. Ich habe genug. Ich will jetzt nach Hause.
Habe zu entrümpeln.