Ich hatte ja schon früh immer gerne recht und wußte alles besser, altklug ist gar kein Ausdruck, mehr so uraltklug, und darum war auch mein erster Berufswunsch Lehrerin. (Man wurde hierzu in der ersten Klasse befragt und sollte, mangels Buchstaben, ein Bild malen. Meins sah aus wie eine sehr mißlungene Karikatur von Fräulein Gebhardt, einer ältlichen Jungfer mit einem dicken Dutt aus pechschwarzem Haar – soweit zum Thema Rollenvorbild.)
Wo war ich gleich? Genau. Im Lift. Mit Taschen und Tüten schwer bepackt. Dann gebietet es im allgemeinen der gute Stil, dass die danach eingestiegene Person mit den freien Händen den Stockwerkswunsch der Beladenen abfragt und dann auf den entsprechenden Knopf drückt. Die Dame sah mich auch fragend an, reagierte auf “Fünf, bitte” mit einem strahlenden Lächeln und der Antwort “Vier”. Hmmm. Eher unüblich. Ich wiederholte also mein Anliegen und sie deutete in einer langgezogenen Bewegung mit dem Zeigefinger auf die gesamte Knopfleiste und listete auf: Adin? Dva? Tri? Chityri? Piat?
Dann haben wir das noch einmal auf Deutsch wiederholt (wegen Lehrerinnengen) und ich bin schließlich mit einem Zwischenstop in Chityri nach Piat gereist.
Eigentlich wollte ich mich im Ruhestand auf meine Türkisch-Studien fokussieren, vielleicht böte sich aber wegen der aktuellen Besiedlung der Wohnanstalt doch eher Russisch an.
Über dem ganzen Viertel wabert ein Odeur “frischgewaschene Wäsche”. Aufdringlich, penetrant, künstlich legt er sich auf meine Schleimhäute. Was ist da los? Haben die alle denselben Weichspüler und können ihn nicht dosieren? Ein paar Schritte und Atemzüge weiter die Erkenntnis: es sind nur die jungen Männer und nur die mit den sehr definierten Körpern.
Scheint sich um die Duftnote dieses Sommers zu handeln. Das gute alte Estée Lauder “White Linen”. Nur in schlecht. Und zuviel.
Den ersten Urlaubswunsch habe ich mir schon erfüllt: zwei Tage nur lesen, nicht sprechen, nicht sonstwie ablenken. Nur mal was mit viel Knoblauch kochen und essen.
Das reicht ziemlich genau, um sich durch diese dicke Zusammenarbeit der “Authors Guild” durchzulesen, einem Projekt aus den Covid-Anfangstagen, zu dem 36 Autorinnen und Autoren beitragen. Geschichten, die sich die Mieterinnen und Mieter eines abgeratzten Appartmenthauses in der New Yorker Lower East Side über einen Zeitraum von zwei Wochen jeden Abend auf dem Dach ihres Gebäudes erzählen, in der Stunde zwischen dem Beifall für die systemrelevanten Kräfte gegen sieben und dem Achtuhrläuten von Old St. Patrick, mit den vorgeschriebenen sechs Füßen Abstand und gegen den Lärm der Martinshörner.
“Ah,” höre ich meine gebildete Leserschaft schon sagen, “so wie seinerzeit Boccaccios Decamerone.” Hatte ich auch gedacht, der Zahn wird uns aber allen von einem sehr klugen Beitrag von Ishmael Reed gezogen, der den Literaturkanon so white als das entlarvt, was er ist – eine Sichtweise, die andere Kulturen kategorisch leugnet und ausschließt.
Die Geschichten sind unterschiedlichen Stils und Inhalts, aber zum Glück hat Preston, der für die Rahmenhandlung verantwortlich zeichnet, der jungen Chronistin (und Hausbesorgerin*) einen – plötzlich und unerwartet verschwunden – Vorgänger mit Archivarsdrang und viel Menschenkenntnis gegeben, so dass wir Leser das Gebäude und die Bewohnerinnen (pars pro toto: The Poet, Eurovision, Amnesia, La Cocinera, The Lady with the Rings, Blackbeard…) gemeinsam mit ihr kennenlernen. Alle haben sie interessante Leben geführt (ja, interessant, genau wie in dem chinesischen Fluch), alle erzählen sie früher oder später davon.
Es ist das Privileg der Leserin, also meins, von den Geschichten unterschiedlich angetan zu sein. Was mich aber verblüfft hat, war dann doch, wieviel ich aus den Anfangstagen der Pandemie schon sehr weit hinten auf den Verdrängungsbahnhof in meinem Gehirn geschoben hatte. Die Maskendebatte. Also Nutzen oder nicht und wenn doch, woher nehmen? Der ängstliche Blick auf die Inzidenzen. Die geradezu wahnsinnig anmutenden Todeszahlen und die Kühlwagen rund um die Krankenhäuser. Diese so unfaßbare Bedrohung, das Aus von Berührung und Kontakt. Die diffuse Angst dieser Tage webt Preston geschickt in die Rahmenhandlung ein. Und apropos Weben: Ms. Atwood greift mal wieder tief in die Mythologiekiste und steuert eine nette kleine sehr Atwood’sche Spinnengeschichte bei. Hach!
Die Auflösung des Ganzen? Nicht ganz unerwartet, nicht ganz zufriedenstellend. Das tut aber der Größe des Projekts und der Vereinigung so vieler verschiedener Stimmen keinen Abbruch. Lesen! (Die deutsche Übersetzung ist schon seit Mitte Februar zu haben.)
* In New York, wo man traditionell nicht mit den Nachbarn spricht (kein Wunder, dass man in dieser beengten Wohnsituation das Bedürfnis hat, sich abzugrenzen), ist der “Super” (kurz für “Building Super Intendent”) für alles zuständig. Nimmt Päckchen an, führt kleinere Reparaturen durch, gießt in den Ferien die Blumen usw. – und bessert seinen niedrigen Verdienst durch Trinkgelder auf. Natürlich hat er/sie auch einen Generalschlüssel und kann jede Wohnung jederzeit betreten, s. hierzu auch Großstadtgruselfilme.
Das Adjektiv-Doppel “frech und flott” findet im Allgemeinen Anwendung bei der Bewerbung von Kleinwagen (der FF-Citiy-Flitzer), Bekleidung (die FF-Peep-Toe-Sommerpumps) oder auch Sonnenuntergangsgetränken (wobei immer eine Gruppe FF-Menschen in luftiger Bekleidung gläser- oder flaschenhaltend Tanzbewegungen vortäuscht) und das Substantiv “Fun” ist meistens nicht fern.
Bücher, die solchermaßen propagiert werden, sind seicht und doof und taugen nichts. Schade um die Zeit.
Andererseits, was geht mich mein dummes Geschwätz aus dem vorherigen Absatz an. Lena Hach hat eine freche flotte Schreibe, ihre Geschichte aus der Perspektive einer alt/neu-klugen intelligenten Heranwachsenden ist sehr unterhaltsam (“Fun”) und außerdem meta.
Wenn schon eskapistisch leichte Kost: dann diese. Das kann man lesen.
Der Mann kann beides, die große und die kleine Form. Und beides gut. Hier, in diesem Kurzgeschichtenband zeichnet er mit schnellen Strichen immer neue Welten und schafft es, seine Leserschaft auf einen Ausflug dorthin mitzunehmen. Genregrenzen kennt er nicht. Doch natürlich kennt er sie, überspringt sie aber so vermeintlich leicht und mühelos, dass Science Fiction, zeitgenössische Erzählung, zeitlose Fabeln gleichberechtigt gut und interessant auf einander folgen.
Ich hatte das Buch schnell als U-Bahn-Buch aus dem Regal gegriffen, konnte aber keine der Geschichen mittig zuklappen und war eigentlich immer nach den (zu kurzen) Fahrten auf einem Bänkchen anzutreffen. Zum Auslesen.
Boyle ist einer von diesen Allzeitundimmer-Geschichtenerzählern, ohne die wir Menschen nicht existieren könnten. Wer eher nicht viel liest, lese seine Kurzgeschichten. Er wird es mit Gewinn tun. Vielleser sowieso. Mein Band kann ausgeliehen werden.
Inspiriert von Frau W. wollte ich den Beginn meiner Urlaubswoche rund um den katholischen Feiertag mit diesem Bild illustrieren:
bitte generiere ein foto: dicke frau im swimming pool. sie liegt in einem schwimmreifen, trägt einen gelben badeanzug, sonnenbrille und einen hut mit breiter krempe
Es ist ja auch schon viel Schönes dran an meiner Miss Ferien.
Dall-E konnte aber partout nicht überzeugt werden, diese eigenartigen transparenten Ärmelchen zu entfernen. Ich empfehle auch noch ein wenig Arbeit an Proportionen. Aber das soll Dall-E ohne mich machen. Ich habe jetzt frei, einen Stapel Bücher und ein paar Bsüchle vor mir.
Ich dachte ja, ich hätte den Haarfarbton Russischblond schon hinreichend beschrieben, Frau W. aus K. hat sich aber auch noch die Mühe gemacht, ihn für uns zu visualisieren (also visualisieren zu lassen). Besten Dank.
Wirklich, wie aus dem Gesicht geschnitten. Außer, dass im Aufzug eher weniger Getreide war.
Bei mir in der Wohnanstalt häuft sich die Zahl der Neunachbarn sowie Innen mit slawischem Akzent. Grade stand ich mit drei Frauengenerationen im Lift, alle drei Köpfe in Russischblond, einem Farbton, der aussieht, als posiere ein vielfach überdüngtes Weizenfeld für ein monströses Agitpropwandbild.
Zu meinen edelsten Tugenden zählt quasi endlose Geduld, aber sie ist noch nicht oft so ausgereizt worden, wie beim Erscheinungstermin* dieses heiß erwarteten Buches.
Endlich!
Book Two setzt exakt da ein, wo Book One (s. https://flockblog.de/?p=38061) geendet hatte. Wer lesen will, dem sei dringend empfohlen, das chronologisch zu tun, sonst fehlen viel zu viel Bezüge zu Personen und Geschehen.
Wie geht es also weiter, im Chicago der Sechziger Jahre?
Die heranwachsende Heldin Karen ordnet ihre Welt noch immer, indem sie sie zeichnet. In dicken spiralgebundenen Collegeheften, mit Lochung und Linierung. Ferris läßt ihr den Raum, den sie dafür braucht. Sperrt die Geschichte nicht in vordefinierte Panels, sondern läßt sie über die Seiten fließen. Das ist besonders in den Dialogszenen eine kluge Technik; man hört sie.
Inzwischen ist die Mutter an Krebs gestorben, ihr älterer Bruder Diego (“Deez”), selbst noch voll unbewältigter Trauer und hin- und hergerissen zwischen zahllosen Affären, seiner Rolle als “Muskel” in einer Gangsterorganisation (der Boss ist in Personalunion auch der Vermieter), dem Leben an sich und der Verantwortung für seine kleine Schwester, laviert zwischen überbordender Zuneigung und haltloser Aggression, aber Karen hat quasi ein ganzes miterziehendes Dorf um sich, das ihr in schlimmsten Zeiten immer wieder Halt und Stütze und Lehrer*in ist.
Inzwischen sterben mehr und mehr junge Amerikaner in Vietnam, werden Kennedys und Dr. King ermordert und auch in Chicago explodiert die Gewalt. Karen wird Zeugin, als korrupte Polizei die Wahlversammlung der Demokraten niederprügelt und zeichnet, zeichnet alles mit. Nebenher “ermittelt” sie weiter den Mord an ihrer Nachbarin, einer Überlebenden des Holocaust und taucht tief in deren Lebensgeschichte ein. Außerdem erlebt sie erste Gefühls- und Liebeswirren und setzt sich in fulminanten B-Movie-Schocker-Traumsequenzen mit ihrer geliebten Mutter auseinander, die lesbisches Begehren als “Phase” abtut. Gewalt ist auch im Alltag ein bestimmendes Leitmotiv. Gegen Schwarze (ein Freund ihres Bruders, der sie nach Hause begleitet, geht vor ihr – hinter ihr würde als Bedrohung gelesen und neben ihr geht nicht), gegen Menschen mit “unnormaler” sexueller Orientierung, gegen Frauen, gegen andere Gangs, gegen Prostiuierte, gegen Krüppel, egal – auch die junge Karen wird Opfer eines schlimmen Angriffs.
Das Ende ist offen. Ob das auf einen dritten Band hindeutet? Ich weiß es nicht. Möglich wäre er, einige der Handlungsstränge sind nicht fertig erzählt. Fürs erste erfüllt mich Dankbarkeit, dass es dieser zweite Band auf den Markt geschafft hat und ich bin immer noch ganz erschlagen von meinem Viele-Stunden-Lese-Erlebnis.
Man merkt es vielleicht: ich tue mich schwer, die Bilder und ihre Verknüpfungen, nicht zuletzt zu klassischer Malerei, in Worten zu beschreiben, bin aber mit dem Föjetong einig, dass Ferris eine der großartigsten und sehr einzigartige Künstlerin im Genre Graphic Novel ist.
Wer sich eine dieser außergewöhnlichen Erfahrung stellen möchte: Lesen! Lesen! Lesen! Lesen! Lesen!
* Es gab mehr als genug Gründe für die Verspätung: Ms. Ferris weiterhin sehr angegriffene Gesundheit, ein langwieriger Rechtsstreit mit dem Verlag über die Rechte am zweiten Monster-Band und zu allem Überfluß noch der Bankrott einer Reederei, der zur Folge hatte, dass die ganze druckfrische erste Auflage nun beschlagnahmt in irgendwelchen Lagerhäusern in Panama verrottet.