Gelesen: Emil Ferris – “My Favorite Thing Is Monsters”

Leider bin ich inzwischen so alt und belesen (jaha), dass es nicht mehr oft passiert, dass mich ein Buch vollkommen umhaut. Da muß schon jemand wie Emil Ferris mit ihrer fast eineinhalb Kilo schweren Monsterschwarte daherkommen.

Vielleicht erst einmal ein paar Worte zur Autorin. Ms. Ferris wurde 1962 in Chicago geboren, wuchs dort auf und lebt bis heute in der Windy City. Ihre Eltern waren Künstler, sie wurde ebenfalls Illustratorin und Spielzeugdesignerin. Soweit, so unspektakulär. Mit 40 Jahren infizierte sie sich durch einen Mückenstich mit einer lebensbedrohenden Erkrankung und war drei Wochen später nicht nur von der Hüfte abwärts gelähmt, nein, sie konnte auch ihre rechte Hand nicht mehr bewegen. In der langen und mühevollen Rekonvaleszenz wurde das Zeichnen zu ihrem Rettungsanker und mit zunehmend zurückgewonnener Beweglichkeit gelang es ihr, an ihrem “Monster”-Projekt zu arbeiten. Das Buch erschien schließlich 2017, schlug ein wie eine Bombe und wurde unter anderem mit dem Eisner-Award ausgezeichnet.

Zum Inhalt: In den 60er Jahren wachsen Karen Reyes (10) und ihr älterer Bruder bei ihrer Mutter im Souterrain eines Mietshauses in einem sozialen Brennpunktviertel in Chicago auf. Die Nachbarschaft ist, was man heute “divers” nennen würde. Menschen mit Migrationshintergrund in allen Hautfarben und die Umstände prekär. Karen ist eine Außenseiterin ohne Freunde, wird in der Schule gehänselt, gemobbt und physisch angegriffen. Nicht, dass sie daran nicht leidet, aber sie hat ein Ventil: ihr Tagebuch. Ein spiralgebundenes Schulheft, in dem sie mit Farbstiften auf liniertem Papier ihren Alltag mit Worten und Zeichnungen dokumentiert. In Vor- und Rückblenden, so sprunghaft, wie das Leben eines Teenagers halt mal ist. Wie Ferris damit eine Geschichte um das Erwachsenwerden in widrigen Umständen zeichnet, ist schlicht atemberaubend.

Karen hat anderen Menschen in ihrer Umgebung eines voraus: Ihr Bruder hatte sie schon als Kleinkind mit ins “Art Institute” genommen und Bilder “lesen” gelehrt. Bildaufbau, Komposition, Farbauswahl und -auftrag, goldener Schnitt, Maltechniken… und was sie lernt, schlägt sich in ihrem Tagebuch nieder. Genau wie ihre Liebe zu Pulp-Grusel-Horror-Comics, deren getreulich kopierte Titel die einzelnen Kapitel ihre Tagesbuchs markieren. Sie mischt die Genres, wie es ihr gerade paßt. Gekritzel auf Kinderniveau mit fast klassisch anmutender Radierung, Comics mit Kopien von Meisterwerken, Strichmännchen mit bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Studien. Groß-ar-tig!

Ich will nicht zu viel preisgeben, aber ein Detail muß ich vorab verraten, weil ich die Idee gar so begeisternd fand: Karen stellt sich selbst als Monster dar, einen kleinen Werwolf. Natürlich hat sie regelmäßig Albträume, in denen “das Monster” von einem aufgebrachten Mob mit Fackeln und Mistgabeln verfolgt wird. Was habe ich mich gefreut, als ich den Mann mit der Mistgabel als den Bauern aus dem ikonischen Gemälde “American Gothic”* von Grant Wood erkannte. Und das schon auf den ersten 10 Seiten des Tagebuchs.

Nun will ich gar nicht mehr viel über die vielen Subebenen des Buches erzählen. Nur so viel: die Nachbarin aus dem oberen Stockwerk wird ermordert. Karen “ermittelt”. Sie findet Audiokassetten, auf denen die jüdische Frau von ihrer Zeit als junges hübsches aber armes Waisenmädchen im Berlin der Zwanziger Jahre (Babylon) erzählt und ihrem weiteren Werdegang durch die Vernichtungsmaschinerie des Nazi-Regimes. Und Karen zeichnet. Die Mutter erkrankt an Krebs. Und Karen zeichnet. Sie sieht Akte von ungeheurer Zivilcourage und bodenloser Feigheit. Und Karen zeichnet. Wenn ihr Bruder nicht gerade mit Gangs herumzieht, treibt er es mit allem, was einen Rock anhat. Und Karen zeichnet. Martin Luther King wird ermordert. Und Karen zeichnet. Karen gerät in die Pubertät und versteht sich nicht. Und Karen zeichnet, zeichnet, zeichnet.

Zeitgeschichte, Sittengemälde, Krimi, Gesellschaftsstudie, Coming-of-Age-Erzählung, Familiendrama, Parallelwelten, Monsterfilm und Pulp Fiction. Alles und noch viel mehr ist Emil Ferris Debüt “My Favorite Thing Is Monsters”. Wow! Ich hatte so ein Leseerlebnis bisher noch nie und möchte keine Minute missen, die ich mit diesem Buch zugebracht habe. Freue mich schon jetzt auf die Fortsetzung, die am 11. September erscheinen wird und werde es sicher bis dahin noch mindestens einmal wiederlesen.

Lesen! Lesen! Lesen! Lesen!

 

* Das Bild hängt übrigens im Original im Art Institute of Chicago.

PS: Es empfiehlt sich eine stabile Unterlage für das Buch (wie gesagt, fast eineinhalb Kilo schwer), wenn man Krämpfe in Händen und Unterarmen vermeiden möchte.

PPS: Die deutsche Übersetzung ist vor kurzem erschienen.

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