Hein beschreibt auf gut 750 Seiten Aufgang bis Untergang der Deutschen Demokratischen Republik, des aus westlicher Sichtweise, “anderen Deutschland”. Ich darf das so nennen, denn die Mauer und ich sind ungefähr gleichaltrig und für mich war diese Wiedervereinigung, wiewohl im Grundgesetz festgeschrieben, immer ein sehr nebulöser Begriff. Wie mit etwas “wieder”vereinigt werden, mit dem man nie zusammen war?
Ich hatte bis dato noch nichts von Hein gelesen, kann also nicht beurteilen, ob dieser befremdliche Stil, hölzern, zeitweise fast bleiern, mit vielen Wiederholungen und andauernd in einem passiv-aggressiven Ton gehalten, wo Menschen keine freien Entscheidungen treffen, sondern vorgegeben bekommen, was sie zu tun und zu lassen, sie sich einzufinden, zu melden, vorzustellen haben, ein Kunstgriff ist, der die Atmosphäre dieses Staates abbilden soll. Wenn ja, dann ist ihm das ausgezeichnet gelungen.
Hein beschreibt seine Geschichte der DDR anhand von Protagonisten, deren Biographien aus mehreren realen Lebensläufen zusammengesetzt sein dürften – die einzigen, die ich selbständig entschlüsseln konnte, waren “die beiden Erichs” (Mielke und Honnecker) sowie den schwer personengeschützten, fotoscheuen, klandestinen “Markus Fuchs” (Leiter des Auslandsgeheimdienstes Markus “Mischa” Wolf). Zunächst Professor Karsten Emser, Ökonom, der im sowjetischen Exil der dreißiger Jahre zu den stalinistischen Säuberungen genauso schweigt, wie er es später als Mitglied des Zentralkomitees der SED tun wird, zum Beispiel anläßlich eines Gesetzes, das Inflation durch Verbot abschafft. Ebenfalls aus Moskau zur Staatsgründung reist an der Pastorensohn und Kriegskrüppel Johannes Goretzka, Ingenieur für Hüttenwesen. Einst glühender Anhänger der NSDAP, nun als ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener und marxistisch-leninistisch geschult, glühender Anhänger Stalins. Jeweils 150-prozentig. Auch ihre Ehefrauen machen im neuen Staat schnell Karriere: Rita Emser wird – stellvertretende – Bürgermeisterin, Yvonne Goretzka wird für die Linientreue bei Kinder- und Jugendfilmen verantwortlich, also Zensorin. Stellvertretend, denn sie ist zwar Parteigenossin, aber halt doch nur eine Frau und in der Hauptsache damit betraut, ihren Chef Benaja Kuckuck (so ein schöner erfundener Name, hach!) zu überwachen. Dieser, Jude und international anerkannter Germanist und Anglist war nämlich im Exil in England, und Internationalität, Fremdsprachenkenntnisse außer Russisch und Weltläufigkeit sind im neuen demokratischen Deutschland per se verdächtig. In dieser Fünferkonstellation wird man sich zukünftig regelmäßig zum Abendessen treffen, und bei Karsten Emser vom ZK die Meinung der Partei zur aktuellen Lage abholen. Merke: “Man darf sich irren, aber nie gegen die Partei. Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht*.”
Idealismus? Integrität? Gutes Gewissen? Jede und jeder entscheidet allein, was ein gutes Leben für sich und seine Lieben wert ist. Nur einmal nicht so genau hinsehen. Nur einmal einen Gefallen gewähren. Nur einmal trotz besseren Wissens den Mund halten. Nur einmal – und dann ist es wie immer. Das zweite Mal ist schon nicht mehr so schwer, ab dem dritten wird es Normalität und nach kaum vierzig Jahren scheitert das aus Ruinen auferstandene “bessere Deutschland”, das “Experiment DDR”, nicht nur, aber auch, daran, dass Menschen Menschen sind und bleiben.
Hein erzählt seine teils autobiographisch gesprägte Geschichte des “Arbeiter- und Bauernstaats” nicht ohne Grund entlang der Biographien akademisch geschulter Parteikader. Wenn einmal echte malochende Proletarier vorkommen, sind die schon lange desillusioniert von der realsozialistischen Realität, in der Rohstoffe und Konsumgüter knapp sind, die Maschinen marode, der große russische Bruder (und Besatzer) sich freizügig bedient und, entgegen aller Hoffnungen und Erwartung von Partei-ZK und Flüchtlingen, Schlesien und Pommern selbstverständlich seinem großen Reich einverleibt und nicht dem Staatsgebiet der DDR zuschlägt.
Im Lauf der Geschichte kommt logischerweise irgendwann die nächste Generation zu Wort, die Kinder der Kader, die Jugend, die Fragen stellt. Warum sollen sie nicht dieselbe Musik hören, dieselbe Kleidung tragen dürfen wie ihre Altersgenossen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs? Warum dürfen sie nicht raus? Reisen, wohin sie wollen? So, wie es das Vorrecht der Jugend seit ehedem ist. Und wie sie es aus dem Westfernsehen kennen. Das Regime hat keine Antworten und reagiert in seiner Hilflosigkeit nur mit Strafmaßnahmen und Verboten.
Hein springt in der Zeit, läßt auch Themen aus. Ich hätte beispielsweise mehr zu Wolf Biermanns Ausbürgerung nach dem Köln-Konzert, und dem anschließenden “Kulturkampf” der Parteiführung gegen Künstler und Intellektuelle erwartet. Das mag aber daran liegen, dass ich in dieser Zeit schon ein politisches Bewußtsein hatte und das Thema damit für mich mehr Bedeutung.
Ganz gräßlich wird es zum Ende hin, wenn die lang ersehnte “Wiedervereinigung” endlich stattfindet. Jubel, Begrüßungsgeld und Zweitaktmotorengestank, aber auch das Prinzip “Rückgabe vor Entschädigung”, was dazu führt, dass viele, die nach dem Krieg ihre Heimat verloren hatten, sie noch einmal verlieren. Diese Szenen beschreibt er eindringlich und schmerzhaft.
Die Schlußpointe bildet eine Besonderheit des (west-)deutschen Rentenrechts. Für Rita Emsers Witwenrente wird nur das eine Jahr angerechnet, in welchem ihr Mann an der Hochschule in Kassel lehrte. Die erzwungenen Exiljahre ab 1935 in Moskau nicht. Yvonne Goretzka hat es besser: die Jahre ihres Mannes bei der Wehrmacht und in russischer Kriegsgefangenschaft gelten und bringen Geld.
Ich weiß, das ist jetzt eine sehr lange Rezension geworden. Es ist aber auch ein dickes Buch.
Mir ist das Schreiben nicht leicht gefallen, ich habe für die fast 1000 Wörter und x Überarbeitungen fast eine Woche gebraucht. Ich bin auch immer noch nicht sicher, ob ich eine Leseempfehlung aussprechen soll. Die Sprache ist, wie gesagt, hölzern, nicht “schön”, dennoch wollte ich immer weiter lesen, weil ich so sehr vieles nicht wußte. Drum: Wem es ähnlich geht, wer wissen und lernen will, nehme sich die Zeit.
* siehe auch: