My generation*

Letzte Woche beginnt der Zug nach Hamburg am Münchner Hauptbahnhof und steht schon bereit, als ich am Gleis ankomme. Schön. Ich steige gemütlich zu, verstaue mein Köfferchen, richte mich am Platz ein. Wasserflasche und Buch ins Netz, Häppchen für später auf die seitliche Ablage, so, wie alle anderen um mich herum. Kaum nehme ich meine Lektüre zur Hand (T. C. Boyle, Blue Skies) ruft es schon vom Sitz nebenan: “Kenne ich schon, da werden Sie Spaß haben” und zeigt mir im Gegenzug ihr Buch, worauf sich die Dame vom Vordersitz zu uns dreht und ihres präsentiert. Jede erzählt kurz, was und warum sie das liest, jede nimmt das Exemplar der anderen kurz zu sich, um ein Foto davon zu machen und dann lassen wir einander in Ruhe, denn wir wollen ja lesen.

Physische Bücher, ein spontaner Lesezirkel. Auch das ist typisch Boomer.
* Und dieses Lied geht mir seitdem nicht aus dem Kopf:

Noch in der Mediathek*: “Die Wannseekonferenz”

Der Mephisto vom Montag, Philipp Hochmair, gibt in diesem Dokumentarspielfilm des Regisseurs Matti Geschonneck den Leiter des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich, der im Januar 1942 vierzehn weitere Granden aus Partei und Ministerien zur Besprechung der “Endlösung der Judenfrage” sowie zum zweiten Frühstück mit Schnittchen und Cognac einlädt.

Das Drehbuch dieses düsteren Kammerspiels (Magnus Vattrodt, Paul Mommertz) basiert auf dem letzten verbleibenden Exemplar des Protokolls der Wannseekonferenz und bleibt nah am Wortlaut der Diskussion, in denen nicht einmal das Wort Massenmord oder Erschießung oder Vergasung fällt. Wenn überhaupt, macht man sich Sorgen um die Befindlichkeit der Mörder (junge deutsche Männer, die mit deutschen Frauen deutsche Kinder zeugen werden) und verfällt in kleinliches Gerangel um Zuständigkeiten und Bürokratie.

Fragte man mich, würde ich dieses hochkarätig besetzte Meisterwerk im Schulunterricht einsetzen und parallel dazu Victor Klemperers “LTI – Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches” lesen lassen. Bis das geschieht, kann ich nur aus vollstem Herzen empfehlen: Anschauen! Anschauen! Anschauen!

* https://www.zdf.de/filme/die-wannseekonferenz-movie-100#autoplay=true

Pfingstmontag im Thalia Theater Hamburg: “Faust I + II”

Als Theaterbesucher in Müncher ist man ja so verweichlicht. Wenn hier ein Dreistundenstück gespielt wird, dann ist seffaständlich zwischendrin eine Pause angesetzt, damit sich Publikum und Schauspieler vor dem zweiten Teil entspannen können.

Nicht so beim Faust-Marathon in Hamburg. Da sieht der Zeitplan aus wie folgt: “Dauer: 8:30h, inklusive drei Pausen. Bei Beginn um 14.00 Uhr ist die 1. Pause von 17.10-18.10 Uhr, die 2. Pause von 19.35-20.00 Uhr, die 3. Pause von 21.05-21.30 Uhr. Die Vorstellung endet gegen 22.30 Uhr.”

Der Regisseur erklärt dem ausverkauften Haus kurz, dass es sich – vorerst – um die letzte Derniere der vielfach preisgekrönten Aufführung handle, wünscht viel Spaß und Durchhaltevermögen und dann geht es los. In der Originalbesetzung von vor 14 Jahren (was ungerechterweise bei den Männerrollen kein Problem ist, Gretchen allerdings ein bißchen alt aussehen läßt; Patrycia Ziolkowska läßt aber weder sich noch das Publikum davon irritieren). Drei Stunden Faust I, die vergehen wie nichts. So toll ist das, was da vorne geboten wird. Es hilft, dass oben an der Bühne in roter Leuchtschrift gezeigt wird, wo im Stück man sich gerade befindet.

Uff! Und schade. Schon aus. Wir brauchen jetzt ein Klo, Kaffee, was zu essen und etwas Bewegung.

Faust II: Wieder betritt Nicolas Stemann die Bühne und führt in das Stück ein. Einführung des Papiergeldes, vermeintlicher Wohlstand und tiefer Sturz, reichlich klassische Bildung (jaha, Herr Goethe), griechische Mythologie, Mittelalter, Walpurgisnacht und Mummenschanz auf der Bühne, Zeuch und Kruscht, von der kleinen in die große Welt.

Es mag sein, dass Goethe dieses sein Werk wichtig gefunden hat und es steckt ja auch viel Arbeit drin und ein gerütteltes Maß an Zitatenschatz fürs deutsche Volk, aber gebraucht hätte die Welt das nicht. Es ist den Thalias dafür zu danken, dass sie aus der sperrig-gestelzten Bildungsbürgersprache ein lustig-lautes Spektakel mit Puppenspiel, vielen Farben, bunten Kostümen, Spielplatz, ordentlich eingesauter Bühne und Strichliste gemacht haben. Sonst wäre das Haus nach 20 Minuten leer gewesen. So bleibt es bis zum frenetischen stehenden Schlussapplaus voll und das Publikum mit Freude und viel Szenenapplaus dabei.

Illegal beim Schlußapplaus fotografiert…

Danke für die Idee und die Gastfreundschaft, Ihr Lieben.

Himmelherrgottsakrazefix!

Sie, sagt die Freundin, findet Bahnbashing blöd. Ich finde, das kommt ganz darauf an. Die Soll-Situation ist doch so: der reisewillige Mensch entrichtet, im Zweifelsfall lang vor der geplanten Fahrt, einen Geldbetrag, mietet darüber hinaus einen Sitzplatz für die Dauer der Reise an und findet sich rechtzeitig vor der Abfahrtszeit am Bahnsteig ein. Daraufhin kommt der Zug und fährt den nunmehr reisenden Menschen, wohin er will.

Nicht Vertragsbestandteil hingegen ist, dass schon vor der Abfahrt eine Nachricht kommt, dass der geplante Zug nicht fährt, die Platzreservierungen aber für den Ersatz “aktualisiert” wurden und der nichtreisende Mensch sich dann am Hamburger Hauptbahnhof im kühlen Nieselregen die Beine in den Bauch steht, weil der Hanseate Sitzbänke offensichtlich für Teufelszeug hält. Auf der Anzeigetafel wird die Abfahrtszeit in Zehnminutensegmenten nach hinten verschoben, bis eine sehr gute Stunde rum ist. Dann wird der Zug ganz abgesagt.

Sollte ja immer noch kein Problem sein, die fahren dort stündlich gen Süden, nehmen wir halt den – verspäteten – nächsten, bleiben entspannt und haben auch tatsächlich Glück und finden zwei freie nebeneinander liegende Sitzplätze. So gondeln wir gen Hannover. In Hannover, teilt der Zugführer mit, werde ein weiterer Zug angekoppelt. Uns egal, wir sitzen warm und trocken, alles im grünen Bereich. Bis zu dem Momement, in dem der Pilot durchsagt, dass der Koppelvorgang fehlgeschlagen sei und nun die zwei Bahnladungen Mensch bitte eilends seinen Zug verlassen sollen, weil der wegmuß.

Leicht verspätet trifft der bereits prallvolle Ersatz ein. Weil wir leidgeprüft und nicht doof sind, entern wir die erste Klasse, finden Plätze und sind willens, mit allfälligem Kontrollpersonal um diese zu streiten. Müssen wir nicht. Es kommt keiner. Wahrscheinlich alle konfliktscheu. Höhö. Der einzige Mensch in Bahnuniform ist die Dame, die dann Kaffee am Platz serviert. So soll das sein. Genau so.

Über zwei Stunden verspätet treffen wir am Münchner Hauptbahnhof ein. Ich bin damit zu Hause, mir gehts gut, ich brauch bloß noch einen funktionierenden MVV. Die Freundin hat noch eine gute Stunde Regionalbahn nach Niederbayern vor sich. Bon voyage, ma chère.

Hamburg, Blurred Edges* Festival

Die erste Veranstaltung, die wir besuchen, findet in Stobreden, im “Haus für Klangkunst-Enthusiasten” in einer ausgesprochen schnuckeligen kleinen Villa statt. Der, in Ermangelung eines besseren Wortes, “Betreuer” ist ein sehr relaxter Herr mittleren Alters, der ganz begeistert von der Eröffnung und den 20 anwesenden Gästen in der letzten Woche berichtet und auf Nachfrage angibt, man habe jetzt “so zwei, drei Besucher am Tag”, wobei ich den Eindruck habe, dass die Zahl auch ungefähr seiner Betreuungskapazität entspricht – er macht auf jeden Fall einen sehr glücklichen Eindruck.

Stellt für uns die “Audio Ghosts” des Klangkünstlers Bernhard Gál noch einmal auf Anfang und lehnt dann im Türrahmen, um zu einzelnen Stücken enthusiastisch weitere Informationen vorzutragen. Dieses hier, “Strob #2”, beispielsweise habe der Künstler erstellt, indem er sein Aufnahmegerät einfach in den Kühlschrank der Gastwohnung gestellt und es Alltagsgeräusche, wie beispielsweise, hier, diese quietschende Tür habe aufzeichnen lassen. Huiui.

Es sind durchaus Stücke dabei, deren Sound einen Sog erzeugen, auf den ich mich einlassen kann. Vor allem, wenn menschliche Sprache im Spiel ist, die in jede Richtung gezerrt wird. Meine Toleranz geht aber stark nach unten, als “z…..z” erklingt, eine Viertelstunde lang extrem hohe Pfeiftöne, als würden Menschen, die nichts von Musik verstehen, vorgeben, Saiteninstrumente zu stimmen, so schmerzhaft, dass ich sie nur mit den Fingern in den Ohren ertrage. Danach gehen wir dann auch. Interessant, aber keine Kunst, für die es sich lohnen würde, den Küchenschrank zu verkaufen.

Unsere nächste Station ist der “Linke Laden” am kleinen Schäferkamp, in dem das Nishad Duo, bestehend aus den Herren Stefan Kiraly an der Gitarre und Julian Schäfer an allen anderen Instrumenten über indische Ragas improvisieren. Das ist mal interessant. Ich kann zwar Herrn Schäfer nicht glauben, als er behauptet, “früher gab es in Indien kein Licht”, sehe ihm aber so gut wie alles nach, denn er beherrscht eine ungeheure Zahl an Instrumenten und fühlt in sich eine Lehrauftrag. Kein Instrument bleibt unerklärt: zwei verschiedene Bambusflöten aus Indien, eine persische und eine afrikanische Trommel. Letztere eine sogenannte “Udu”, aber “von einem Franzosen gefertigt, der sich daran hält” aus Ton und mit zwei verschiedenen Tierfellen bespannt. Ein irrer Klang! Außerdem eine wunderschöne Saz aus der Türkei. Weltmusik im besten Sinne. Ein sehr schönes und sehr außergewöhnliches Konzert.

Der “linke Laden” war mal ein besetztes Haus, besticht im Eingangsbereich dadurch, dass jede Fläche mit Aufklebern gepflastert ist, für deren Lektüre man Stunden aufwenden könnte und kommt mit den knapp 20 Anwesenden arg an seine Kapazitätsgrenzen. Hocker, Fensterbänke, Tischchen werden zu Sitzgelegenheiten umgewidmet, bis alle einen Platz haben. Das hat sehr viel Charme. Es hätte sicher auch Spaß gemacht, sich durch die Klosprüche zu lesen, allein, die Treppe nach unten ist arg steil und dann war da auch noch die mystische Pfütze… Egal. Es ist auch so ein ganz eigener Veranstaltungsort.

Auf dem Rückweg, wo es um 22:00 Uhr immer noch hell ist, hach! fällt mir wieder auf, dass es keine Mauer ohne Graffiti gibt, Sympathie für die Rote Flora, Antipathie gegen Nazis und Miethaie überall hingesprüht sind, Schmutz und Schmuddel existiert. Das ist die Art von urbaner Subkultur, die in München immer gleich sofort weggekärchert wird. Wäre ja noch schöner. Und ist so schade.

Wir schmieren uns gerade Brote und füllen die Wasserflaschen. In zwei Stunden fängt der “Faust” im Thalia-Theater an. Der erste und der zweite Teil. Achteinhalb Stunden. Jedem seins… Ich werde berichten.

* https://www.vamh.de/blurred_edges/info

Gelesen: T. C. Boyle – “Blue Skies”

Eine Familiengeschichte aus dem Hier und Heute. Und was eine Hundertschaft Sachbücher über den Klimawandel nicht geschafft hat, kriegt Boyle auf knapp 400 Seiten Roman hin. Der Planet im Ganzen und jede Protagonistin und jeder Protagonist auf ihre und seine Weise betroffen… Und wie!

Ich habe ja immer am meisten Spaß, wenn er eine von Herzen unsympathische Person von sich und ihren Befindlichkeiten erzählen läßt. Alle schuld, außer ihr selbst. Soo hübsch.

Ansonsten: in den Zug setzen, sieben Stunden Fahrtzeit und lesen! Lesen! Lesen!