Fehlzündungen

Er, erzählt mein reizendes Gegenüber im Zoomcall, halte ja nicht viel von Machismo. Nein, nein, er selbst sei, sagt er ganz ohne Falsch und Arg, ja mehr ein Netter, halt so ein Pussibär. Ganz eindeutiger Fall von Konsonantenverwechslung.

Ich bleibe im weiteren erst einmal wortkarg und habe noch Tage danach Zahnabdrücke auf der Zunge.

Fehlzündungen

Der Reporter berichtet von der Nacht vor dem 7. Oktober letzten Jahres, in Gaza. Da habe er schon so ein flauschiges Gefühl im Magen gehabt.

(Danke den Damen S. aus D., die beim Fernsehen so gut aufgepasst haben.)

Nachtkritik*: David Berlinghof – “Wohlfühlprogramm”, Premiere im Hoftheater München**

Es empfiehlt sich, in seinem Leben mindstens einen Menschen zu haben, der zwar sein Theaterwissenschaftsstudium im Gegensatz zu einem selbst nicht abgeschlossen hat, aus dem dafür dann aber eine stark nachgefragte Regisseurin geworden ist. Dann wird man nämlich zur Premiere ihres neuen Künstlers eingeladen. Jaha. Recht herzlichen Dank auch, Mrs. Rothmüller!

Und so bin ich vorhin bei David Berlinghof aus Illerberg in seinem bayrisch-schwäbischen Musikkabarett gelandet, sehr kongenial begleitet vom Kontrabassisten Felix Renner. Berlinghof ist studierter Musiker, hat eine ausgesprochen schöne und mehroktavige Lagen umfassende Stimme, springt lustig zwischen elektrischer und akustischer Gitarre hin und her und ab und zu spielt er auch Piano, wie’s halt grad am besten passt, zum selbst proklamierten populistischen Liedgut. Felix Renner liest nebenher Schiller (mit gutem Grund, verrate ich aber nicht), muss gelegentlich zum “Schaffen” geholt werden und hat ganz offensichtlich Freude an dem, was er da tut und sehr gut macht. Es ist erfreulich zu sehen, wie gut die Chemie zwischen den beiden stimmt.

Berlinghof schaut genau hin, beim Zeitgeist und unser aller kleinen und großen Schwächen und nimmt sie mehrsprachig (schwäbisch, bayrisch, bayrisch-schwäbisch, Hochdeutsch sowie Flamenco) auf die Schippe. Alle, die im “Ausland” an unserer schwäbischen Dialektprägung erst einmal gelitten haben, konnten a) sehr mitfühlen und b) sich auch ganz arg freuen, dass er den Dialekt und landsmannschaftliche Eigenheiten zwar auf den Präsentierteller legt, aber liebevoll. Und sie nie verrät. Musikalisch sind die beiden eh top! Gegen Ende erinnert er sein Publikum sehr geschickt noch an die Bedeutung der Demokratie und dann ist leider aus. Schade. Meine absoluten Favoriten waren das Liebeslied (Mehrfach-Hach!) und der wunderbare Übergang zu “Burn, Motherfucker, burn!” Und der Flamenco (auch arg Hach!). Und “Brumm, Brumm”. Und das Klo vom Eddie. Und… Und wen das noch nicht neugierig gemacht hat, der ist selber schuld. Hah!

Aber was mache ich hier eigentlich? Mensch! Hätte ich beinahe die Kernbotschaft mißachtet: “Ned gschimpft isch globt gnua.”

Mann!

Danke den Künstlern, der Regisseurin und dem Haus – beim nächsten Mal bringe ich mehr Leute mit, versprochen. Kann ja bei Bedarf simultan übersetzen.

* “Nachtkritik” ist vielleicht ein bißchen übertrieben, die Vorstellung fing schon um 18:00 Uhr an. Andererseits: es ist dunkel draußen. Gilt also.

** Wem das Hoftheater nichts sagt, dem geht es, wie mir gegangen war. Inzwischen weiß ich, dass es ein ganz herziges Theater mit – geschätzt – ca. 100 Plätzen ist, direkt in Sendling, im Stemmerhof (https://hof.theater/). Werde ich mir merken.

Gelesen: Markus Gasser – „Lil”

Manchmal meinen es Menschen gut mit mir und dann leihen sie mir ein Buch, das sie selbst gerne gelesen haben. Wie zum Beispiel “Lil”, in dem der österreichische Autor Markus Gasser, einen, hmmm, Gesellschafts-Schelmenroman mit einer Handlung erzählt, die einer Telenovela würdig wäre – außer einem lang verschollenen Zwilling kommt eigentlich alles vor. Gasser ist ein literarisch hochgebildeter Mann und wirft mit Zitaten geradezu um sich; ich mag sowas ja sehr gern und freue mich immer sehr, wenn ich wieder eines erkenne. Wüßte aber auch zu gerne, wieviele mir entgangen sind…

Er verwendet einen sehr schönen Kunstgriff und läßt die Geschichte lange nach Lils Tod beginnen. Erzählt von Sarah, ihrer Enkelin mit vier „Ur“ vorne. Zuhörerin ist Miss Brontë, ihre Hünding, mit der sie lange lange nächtliche Genesungsspaziergänge durch New York unternimmt, eine vierbeinige Philosophin, mit einer sehr eigenen Meinung, mit der sie nicht hinter dem Berg hält. (Es ist überhaupt sehr schön, wer und was alles eine Stimme und eine sehr eigene Meinung hat. Doch, sehr schön.)

Worum geht es nun? New York, 1880: Lillian Cutting, seit drei Jahren verwitwete reiche Erbin, die keine Lust hat, als Deko-Püppchen in der Salon-Ecke zu sitzen und „feine Dame“ zu spielen (erinnert sich noch wer an den Skandal, als Hilary Clinton damals sagte, sie sei keine Hausfrau, die Plätzchen bäckt?), sondern erfolgreich (sehr arbeitnehmerfreundliche und soziale) Unternehmen führt und sich sehr klar positioniert, fällt unter die Räuber. Ihr intriganter erfolgloser Sohn Robert sorgt dafür, dass sie im Sanatorium eines Quacksalber-Psychiaters festgehalten und ihr unnatürliches, weil unweibliches Verhalten “behandelt” wird. Mit hohen Morphiumdosen und Psychoterror.

Weil es sich um einen Telenovela-Familienthriller handelt, kann sie sich – with a little help of her friends – befreien, und nun folgt Lils Rache. Und was für eine!

Mit Hilfe der Justiz (sehr schöne Nebenhandlung, sehr Hach!) und ihrer Freunde, deren eine die erste vor einem Gericht in den USA zugelassene Anwältin ist, macht sie sie alle nieder: den mißratenen Sohn, den egomanischen Psychiater, die angepassten “guten” Frauen, die ihr Übel getan haben und in einem Aufwasch die moralisch verwerflichen Mitglieder der dekadenten High Society (quasi fast alle). Wer schuldlos ist, bekommt ihren Schutz – egal in welcher Notlage. Gasser läßt Lil alle großen Fragen lösen, ob Rassismus, Korruption, Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und mehr – noch 100 Seiten mehr, und selbst Weltfrieden, Klimakrise und Hunger wären kein Problem mehr.

Das ist aber verzeihlich, denn Gasser macht das äußerst geschickt und läßt nicht einen Handlungsfaden lose, bringt Moral, Gesellschaftsnormen und Wahnsinn unter einen Hut. Dabei verlangt er seinen Lesern ab, dass sie zwischen den Zeilen lesen, Andeutungen selbst interpretieren, also in kurz: denken. Diese anspruchsvolle Erzählweise ist es, die neben der fast schon in die Groteske gehenden Geschichte am allermeisten Spaß macht.

Danke fürs Empfehlen und Entleihen, liebe Frau R. aus M.

Wer keine so gute Freundin hat, besorge sich selbst ein Exemplar und lese!

Echt jetzt?

Ich habe die letzte Tage literarisch in der italienischen Frührenaissance verbracht und zu schnür- oder entschnürende Korsetts waren quasi mein Alltag. Ist es da verwunderlich, dass ich mich bei einer solchen Kondomreklame frage,

ob Latex für den langen Halt dann wohl auch mit Fischbeinstäben verstärkt wird?

Gelesen: Paolo Bacigalupi – „Navola”

Endlich!

Ich hatte ja schon berichtet, wie sehnlichst ich nach fast 10 Jahren Wartezeit den “neuen Bacigalupi” erwartet habe – https://flockblog.de/?p=49425 – und dann brauchte ich noch ein zusammenhängendes Stück Zeit, um die über 500 Seiten zu verschlingen (während ich mich ständig ermahnen mußte, langsam, laaangsam zu lesen und zu schlucken und zu genießen).

Wow!

Meine Fresse!

Holla, alle Waldfeen!

Bisher kenne ich Bacigalupi vor allem als Autor futuristischer Dystopien, in denen die Menschheit gezwungen ist, auf dem nunmehr erfolgreich zerstörten Heimatplaneten zu überleben. Genauso, wie Wikipedia es erklärt: “Eine Dystopie ist eine meist in der Zukunft spielende Erzählung, in der eine erschreckende oder nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung dargestellt wird.” Betonung auf “meist”. Denn das aktuelle Werk spielt in einer fiktiven Vergangenheit, ist aber deswegen nicht weniger dystopisch, denn auch hier ist der Mensch des Menschen Wolf und die Welt nicht, wie sie sein könnte.

Wir gehen kurz zurück ins 20. Jahrhundert, erinnern uns an Bert Brechts “Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?” und solchermaßen vorbereitet tauchen wir ein in den fiktiven Stadtstaat Navola, um die Familie di Regulai kennenzulernen. Die di Regulai sind Besitzer einer Bank und über ein weitgesponnenes Netz aus Darlehen, Zinsen, Spionage und Gefälligkeiten, Hypotheken, Handel, Versicherungen, Hochzeiten und Wohltätigkeiten sind sie Dreh- und Angelpunkt aller Macht, ohne dabei je formal ein politisches Amt innezuhaben. Die Florentiner Medici des frühen 15. Jahrhunderts dürften für diesen frühen Mob Pate gestanden haben, wobei Navola, soweit reicht die dichterische Freiheit allemal, im Gegensatz zu Florenz einen eigenen Stadthafen hat, weil man sowas immer gut gebrauchen kann. Außerdem vor den Stadttoren gleich herrliche Landschaften und Wälder, weil man ja nun auch jagen und picknicken will.

Bacigalupi erschafft ein Universum. Mit Mythologien, existierenden und untergegangenen, einer Welt vor dieser jetzigen, Philosophien und überlieferten Schriften, ein System aus Geldflüssen, Standardisierung, Verträgen und Versprechen. Es ist atemberaubend. Manchmal glaubte ich, ihm auf der Spur zu sein, weil die Namen von Göttern oder Denkern, die Entstehungsgeschichte von Welt und Unterwelt nah an dem ist, was ich kenne. Aber nein, wieder eine Wendung, wieder ein Verrat , wieder eine Intrige, ein Spiel im Spiel im Spiel. Ich war ja erst auch mißtrauisch: wie? Eine Geschichte über Drachen? Fantasy? Meh. Ja, es spielen Fantasyelemente hinein, aber Bacigalupi spielt auch mit denen und den Erwartungen, die seine Leserschaft haben könnte und hoppla!, wieder eine Volte.

Ich habe den Roman mit ganz ganz großer Freude gelesen und er sei von ganzem Herzen weiterempfohlen. Habe eben nachgesehen: es gibt bereits eine deutsche Übersetzung.

Lesen! Lesen! Lesen! Lesen!

Armer Apple-Algorithmus

Auf meinem Telefon sind weniger Bilder von Menschen, als Screenshots von unsinnigen Zeitungsbeiträgen oder sonstigen Absurditäten zu finden. Das hat zur Folge, dass mir nicht etwa “Schöne Tage mit Heinz am Strand” oder “Spaß mit den Mädels auf Malle” oder dergleichen in die (von mir nie bestellte) Memories-Fotoschau eingespielt werden, sondern im Wechsel zwei sogenannte “Fotostrecken”. Einmal “Schneetage” (s. o. unter “Absurditäten”) sowie “Dreamy Sunsets” (exakt einer, der dann halt mehrfach und warum auf Englisch, weiß ich nicht).

Ein Mensch hätte es längst aufgegeben…

Rilke reloaded

Herr: lass dir Zeit. Der Sommer ist schön groß.
Lass weiter messen Zeit auf Sonnenuhren,
und auf den Fluren soll man bräunen: los.

Land mit Touristen habe voll zu sein;
gib ihnen weiter südlichere Tage,
lass Zeit bis hin zum Ende und sage
einen Aperol noch, bitte, und noch einen Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, mietet ein Hotel.
Wer jetzt allein ist, reist in den Club Med,
wird feiern, tanzen und spazieren gehen
in Schlappen, Schwimmzeug und Schackett
und genießen, wenn die Winde wehen.

Nachfolgend das Original. (Für die, die es möglicherweise nicht auswendig können…)