Gelesen: Markus Gasser – „Lil”

Manchmal meinen es Menschen gut mit mir und dann leihen sie mir ein Buch, das sie selbst gerne gelesen haben. Wie zum Beispiel “Lil”, in dem der österreichische Autor Markus Gasser, einen, hmmm, Gesellschafts-Schelmenroman mit einer Handlung erzählt, die einer Telenovela würdig wäre – außer einem lang verschollenen Zwilling kommt eigentlich alles vor. Gasser ist ein literarisch hochgebildeter Mann und wirft mit Zitaten geradezu um sich; ich mag sowas ja sehr gern und freue mich immer sehr, wenn ich wieder eines erkenne. Wüßte aber auch zu gerne, wieviele mir entgangen sind…

Er verwendet einen sehr schönen Kunstgriff und läßt die Geschichte lange nach Lils Tod beginnen. Erzählt von Sarah, ihrer Enkelin mit vier „Ur“ vorne. Zuhörerin ist Miss Brontë, ihre Hünding, mit der sie lange lange nächtliche Genesungsspaziergänge durch New York unternimmt, eine vierbeinige Philosophin, mit einer sehr eigenen Meinung, mit der sie nicht hinter dem Berg hält. (Es ist überhaupt sehr schön, wer und was alles eine Stimme und eine sehr eigene Meinung hat. Doch, sehr schön.)

Worum geht es nun? New York, 1880: Lillian Cutting, seit drei Jahren verwitwete reiche Erbin, die keine Lust hat, als Deko-Püppchen in der Salon-Ecke zu sitzen und „feine Dame“ zu spielen (erinnert sich noch wer an den Skandal, als Hilary Clinton damals sagte, sie sei keine Hausfrau, die Plätzchen bäckt?), sondern erfolgreich (sehr arbeitnehmerfreundliche und soziale) Unternehmen führt und sich sehr klar positioniert, fällt unter die Räuber. Ihr intriganter erfolgloser Sohn Robert sorgt dafür, dass sie im Sanatorium eines Quacksalber-Psychiaters festgehalten und ihr unnatürliches, weil unweibliches Verhalten “behandelt” wird. Mit hohen Morphiumdosen und Psychoterror.

Weil es sich um einen Telenovela-Familienthriller handelt, kann sie sich – with a little help of her friends – befreien, und nun folgt Lils Rache. Und was für eine!

Mit Hilfe der Justiz (sehr schöne Nebenhandlung, sehr Hach!) und ihrer Freunde, deren eine die erste vor einem Gericht in den USA zugelassene Anwältin ist, macht sie sie alle nieder: den mißratenen Sohn, den egomanischen Psychiater, die angepassten “guten” Frauen, die ihr Übel getan haben und in einem Aufwasch die moralisch verwerflichen Mitglieder der dekadenten High Society (quasi fast alle). Wer schuldlos ist, bekommt ihren Schutz – egal in welcher Notlage. Gasser läßt Lil alle großen Fragen lösen, ob Rassismus, Korruption, Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und mehr – noch 100 Seiten mehr, und selbst Weltfrieden, Klimakrise und Hunger wären kein Problem mehr.

Das ist aber verzeihlich, denn Gasser macht das äußerst geschickt und läßt nicht einen Handlungsfaden lose, bringt Moral, Gesellschaftsnormen und Wahnsinn unter einen Hut. Dabei verlangt er seinen Lesern ab, dass sie zwischen den Zeilen lesen, Andeutungen selbst interpretieren, also in kurz: denken. Diese anspruchsvolle Erzählweise ist es, die neben der fast schon in die Groteske gehenden Geschichte am allermeisten Spaß macht.

Danke fürs Empfehlen und Entleihen, liebe Frau R. aus M.

Wer keine so gute Freundin hat, besorge sich selbst ein Exemplar und lese!

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