Der Löwe ist los bzw. Einfach mal die Sau rauslassen

Es steht zu hoffen, dass endlich sämtliche Medien ihren Teil zur Füllung des Sommerlochs mit der Berliner “Causa Leo” beigetragen haben. Es war alles dabei, vom Spiegel mit “Die unerträgliche Leichtigkeit des Schweins” über die Daily Mail mit “BERLIN LION TERROR”.

Nun ist aber wieder alles gut. “Keine Löwin in Berlin” (wer hier nicht sofort Stephan Remmler im Ohr hat, ist einfach zu jung), nicht in Zehlendorf und auch nicht in Kleinmachnow. “Berlin hat nur Schwein gehabt”.

Gelesen: Joshua Dysart (Author) and Alberto Ponticelli / Giulia Brusco (Artists) – “Goodnight Paradise”

Der Thrift-Shop in Chicago hat mir statt des bestellten einen anderen Comic zugeschickt und mit sehr professionellem amerikanischen Kundenservice sofort die Rückerstattung des Geldes veranlasst. Außerdem soll ich das Buch nicht lang zurückschicken, sondern einer Wohltätigkeitseinrichtung spenden. Jaha. Schon. Aber wenn ich ausnahmsweise mal was in die Hände kriege, das ich mir nicht selbst ausgesucht habe, will ich es vor der Charity lesen. Könnte ja eine großartige Entdeckung sein.

Ist es nicht.

„Goodnight Paradise“ liest sich vielmehr wie das Storyboard zu einem recht vorhersehbaren Vorabend-Fernsehkrimi. Kulisse ist das im Prozess der Gentrifizierung befindliche Venice Beach, der pazifische Ozean, verdreckte Straßen, glänzende Neubauten. Wie’s halt so ist, wenn es wo schön ist. Die handelnden Personen: Der Penner mit dem goldenen Herzen, sein entfremdeter Sohn, sein guter Penner-Kumpel mit dem Van und dem nahezu unerschöpflichen Biervorrat. Eine Latina-Polizistin mit einem corazón de oro sowie eine Handvoll austauschbarer Korrupt-Cops. Ein neureicher Tech-Richie-Rich, der für seine geldigen Bonzen-Buddies in seinem Haus in den Hügeln Pool-Parties mit nahezu unerschöpflichen Mengen an Alkohol, Drogen und frischem Mädchenfleisch schmeißt. Eine blonde Ausreißerin aus einem Fly-Over-State, die von einer schon „street-wisen“ junge Frau zu einer dieser Parties mitgenommen wird. Ihr schwuler schwarzer gemeinsamer Skateboard-Freund mit dem Käppi. Dessen BFF, der in bester Nazi-Tradition erzogene hakenkreuztätowierte Hart-wie-Kruppstahl-Zäh-wie-Leder-Blond-wie-Bardot Jung-Arier. Zwei sehr brutale Schläger, in den entsprechenden Filmen heißen solche Typen „Muscle“, hier “Doom and Pete”.

Was jetzt passiert, liegt auf der Hand, oder? Genau.

Ausreißerblondie kriegt auf der Party Roofies ins Glas und wird vergewaltigt (beinahe), Streetwisie filmt das. Am nächsten Tag liegt Blondie tot im Müll und Streetwisie ist auf der Flucht. Vor so ziemlich allen, weil jeder irgendwie verwickelt ist. Zum Schluss sind (fast) alle recht brutal zu Tode gekommen, auch Streetwisie ganz kurz vor knapp, beiiiinahe hätte sie den Absprung geschafft. Nur der alte Goldherzpenner ist übrig und verteilt das erpresste Geld, das keinem mehr nützt, wie seinerzeit Robin Hood unter den Hungrigen und Elenden ohne Obdach. Nebenher noch Klimakatastrophe, verschmutzter Ozean, lodernde Waldbrände und Rauchschwaden. Dann aber endlich: Aus.

Die Zeichnungen sind nicht über die Maßen gut, das Medium Comic, die Macht der Kombination aus Bild und Sprache wird nicht wirklich genutzt. Das Buch fühlt sich an wie etwas, in das man zufällig hineinzappt und dranbleibt, weil man doch wissen will, wie es ausgeht. Um es zehn Minuten später vergessen zu haben.

Freut euch. Ihr müsst das nicht lesen, weil ich es schon ohne Freude getan habe. Und freu dich erst recht, „Charity of my Choice“. “Goodnight Paradise” ist unterwegs.

Aus der Wortschöpferei

Es habe sich der Kandidat, berichtet die Kollegin heute aus einem Vorstellungsgespräch, vor allem durch eins hervorgetan, nämlich:

Man habe sich einstimmig gegen ihn entschieden.

Fehlzündungen

“Und weißt du, Sabine, was die Klux an der Sache war…?” Nein, weiß ich nicht. Werde es wohl auch nie erfahren, weil ich viel zu beschäftigt war, diese synapsodale Verirrung unter dem Motto “The Clan never forgets” für den flockblog aufzuschreiben.

Gestern in der Unterfahrt: Immanuel Wilkins Quartett

Mann, was das ein tolles Konzert! Immanuel Wilkins ist einer von den Musikern, die einen Blutbund mit irgendeinem Dämonen geschlossen haben müssen – sonst kann man einfach mit 25 noch nicht so gut sein. Wo will der mal hin, wenn er doppelt so alt ist? Meine Herren!

Gleich die erste Nummer, “Warriors” reißt einen mit ihrer wilden Energie vom Stuhl. Schon mittig sind Wilkins am Altsaxophon und sein göttlicher Quadruple-Hach!-Schlagzeuger Kweku Sumbry (der hat gleich daneben unterschrieben) schweißgebadet, sie steigern sich aber doch immer noch weiter bis in ein grandioses Finale, kongenial unterstützt von Micah Thomas am Piano und Bassist Daryl Johns. Was für eine Power, was für ein Groove!

Sie können aber auch ganz anders. Das letzte Stück vor der Zugabe, dessen Namen ich leider nicht weiß, war sowas von magisch-mystisch-medidativ, dass ich in endlosen Wüstendünen in den stahlblauen Augen imaginärer Tuaregs ertrunken bin. Doch. Genau so.

Ich war so beseelt, dass ich dem MVV sogar nachgesehen habe, dass man vom Max-Weber-Platz bis zum Haderner Stern weit über eineinhalb Stunden in einer bunten Auswahl von Verkehrsmitteln brauchen kann. Die Nacht war lau und ich gnädig. Ich gehe aber davon aus, dass zukünftig auf der Strecke der U6, zwischen Implerstraße und Odeonsplatz die weltschönsten und -stabilsten Weichen verbaut sein werden. Mindestens.

Lichtscheu

Die einen diskutieren Singularity und machen Notizen in ihre dicken Klassen, ein bißchen weiter weg belästert eine Gruppe junger Frauen den gesamten Lehrkörper ihrer Anstalt. Andere besprechen ihre Gewissensnöte. Darf man für den “dringend nötigen” (nach d e m Jahr, ey) Scuba-Urlaub auf den Malediven “CO2 rausschmeißen” und nebenzu mit großem Genuß einen Monsterburger schlemmen, wenn man dazu die magische Formel “sonst essen wir ja kaum mehr Fleisch” spricht? Es scheint zu helfen. Wenn man noch das schlechte Gewissen zu “Eco-Conscience” anglisiert und den komplizierten Begriff häufiger zu Munde führt, ist alles wieder im Lot. Allen geht es sichtbar gut.

Es gibt auch gewiß Schlechteres, als mit weit getropften Pupillen und trotz Sonnenbrille sehr lichtempfindlichen Augen sein Abendmahl im schattigen Innenhof des Atzinger zu nehmen und dabei, soweit das halt gerade geht, Leit zum Schaug’n.

Ach Mönsch

Ein bisschen enttäuscht war ich schon, als mir der türkische Lebensmittelhändler eben Kamelhoden anbot und mir dann statt der erwarteten Proteine einen extrem zuckerhaltigen Kaugummi in die Hand drückte.

Andererseits: er hat nicht gelogen. Honi soit qui mal y pense.

1. Sieger

Im Wettbewerb “Wieviele Ressentiments lassen sich in einer Schlagzeile unterbringen” geht wieder einmal die BILD-Zeitung als ungeschlagener Sieger hervor.

Lass mal zählen: Greenpeace, quasi die Urahnen der Klimakleber. Pilot, hah! Wer sich so ein Hobby leisten kann, der muss doch mindestens Arzt sein. Eben. Hat auf unsere Kosten studiert und nun stört er das einfache Volk beim Fußballgucken (Allianz-Arena). Aber Rumjammern. Weichei.

Wie ich dem Artikel entnehme, touchiert Kai von S., der noch dazu adlige Gleitschirmflieger (sowie Flop-Flieger, Chaos-Pilot und Aktivist) bei seiner schiefgegangenen Aktion zwei (ganz bestimmt unbescholtene und fleißige) Arbeiter auf den Zuschauerrängen, einen Ukrainer (42) und einen TV-Techniker (36) aus Frankreich.

Wenn das BILD nicht zur letzten Bastion der sozialistischen Internationale macht, dann weiß ich aber auch nicht. Oh Mann.

Gelesen: Gabriele Tergit – “Vom Frühling und von der Einsamkeit, Reportagen aus den Gerichten”

Die Bücherverbrennung* der Nazis haben viele Autoren und ihr Werk nicht überlebt. Gabriele Tergit ist eine von ihnen. 1933 nach einer SA-Razzia gerade noch aus Deutschland entkommen, war sie eine der interessantesten Stimmen der Weimarer Republik, nicht zuletzt als Gerichtsreporterin.

Ich hatte sie, wie viele Menschen, vor ein paar Jahren “entdeckt”, als ihr Familienroman “Effingers” wieder neu aufgelegt worden war und war rückhaltlos begeistert (s. https://flockblog.de/?p=45397). Ihr Berlin-Roman “Käsebier erorbert den Kurfürstendamm” (s. https://flockblog.de/?p=45397) ist sehr im Augenblick verhaftet, der hat mich mehr als zeitgeschichtliches Dokument und weniger literarisch beeindruckt. Diese Gerichtsreportagen jedoch: huiuiui!

Ein eindrücklicheres Spiegelbild einer Gesellschaft kann es gar nicht geben, als die Beschreibung dessen, was ein Verstoß gegen deren Ordnung sein soll. Es ist grausig, wie sich die ersten Berichte über verhandelte Straßenschlägereien zwischen den Braunen und den Roten zu Beschreibungen von Schnellgerichten verändern. Wie Mundraub zum Landfriedensbruch umgemünzt wird, weil es keine Banden hungriger Kinder geben darf. Dass der unsägliche §218 schon damals Frauen auf die Küchentische von Engelmacherinnen getrieben hat.

Tergit schreibt sehr literarisch, das ist vielleicht gut, weil es extrem einprägsam ist. Die Herausgeberin Nicole Henneberg hat ebenfalls gute Arbeit geleistet und hilft den zeitfernen Nachgeborenen mit einem ausgezeichneten Glossar und einem klugen Nachwort. Trotzdem sind die Reportagen keine leichte Kost. Sollten aber gelesen werden. Also los.

Wer mehr aus dieser Ecke kennenlernen will, dem sei Peggy Parnass empfohlen (Peggy Parnass, “Prozesse”, erschienen bei Rasch und Röhring), die Gerichtschronistin der Siebziger, die Zeit, in der ich als Heranwachsende dabei war oder Pieke Biermann “Der Asphalt unter Berlin: Kriminalreportagen aus der Metropole”, Pendragon, 2008.)

* Wer mehr dazu wissen will, lese Jürgen Serkes gründlich und umfänglich recherchiertes Buch “Die verbrannten Dichter”.