Gelesen: Gabriele Tergit – “Vom Frühling und von der Einsamkeit, Reportagen aus den Gerichten”

Die Bücherverbrennung* der Nazis haben viele Autoren und ihr Werk nicht überlebt. Gabriele Tergit ist eine von ihnen. 1933 nach einer SA-Razzia gerade noch aus Deutschland entkommen, war sie eine der interessantesten Stimmen der Weimarer Republik, nicht zuletzt als Gerichtsreporterin.

Ich hatte sie, wie viele Menschen, vor ein paar Jahren “entdeckt”, als ihr Familienroman “Effingers” wieder neu aufgelegt worden war und war rückhaltlos begeistert (s. https://flockblog.de/?p=45397). Ihr Berlin-Roman “Käsebier erorbert den Kurfürstendamm” (s. https://flockblog.de/?p=45397) ist sehr im Augenblick verhaftet, der hat mich mehr als zeitgeschichtliches Dokument und weniger literarisch beeindruckt. Diese Gerichtsreportagen jedoch: huiuiui!

Ein eindrücklicheres Spiegelbild einer Gesellschaft kann es gar nicht geben, als die Beschreibung dessen, was ein Verstoß gegen deren Ordnung sein soll. Es ist grausig, wie sich die ersten Berichte über verhandelte Straßenschlägereien zwischen den Braunen und den Roten zu Beschreibungen von Schnellgerichten verändern. Wie Mundraub zum Landfriedensbruch umgemünzt wird, weil es keine Banden hungriger Kinder geben darf. Dass der unsägliche §218 schon damals Frauen auf die Küchentische von Engelmacherinnen getrieben hat.

Tergit schreibt sehr literarisch, das ist vielleicht gut, weil es extrem einprägsam ist. Die Herausgeberin Nicole Henneberg hat ebenfalls gute Arbeit geleistet und hilft den zeitfernen Nachgeborenen mit einem ausgezeichneten Glossar und einem klugen Nachwort. Trotzdem sind die Reportagen keine leichte Kost. Sollten aber gelesen werden. Also los.

Wer mehr aus dieser Ecke kennenlernen will, dem sei Peggy Parnass empfohlen (Peggy Parnass, “Prozesse”, erschienen bei Rasch und Röhring), die Gerichtschronistin der Siebziger, die Zeit, in der ich als Heranwachsende dabei war oder Pieke Biermann “Der Asphalt unter Berlin: Kriminalreportagen aus der Metropole”, Pendragon, 2008.)

* Wer mehr dazu wissen will, lese Jürgen Serkes gründlich und umfänglich recherchiertes Buch “Die verbrannten Dichter”.

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