Tales of the City

Seit über einem Jahr verfolgt mich das American Conservatory Theater (A.C.T.) mit Spendenaufrufen. Man plane die Welturaufführung des Musicals “Tales of the City” (im Deutschen bekannt als “Stadtgeschichten”) von Armistead Maupin und die Produktion scheint nicht auf dem stabilsten finanziellen Gerüst gestanden zu sein. Irgendwie haben sie das Geld wohl doch zusammenbekommen. Anfang Juni war Premiere, von enthusiastischen Kritiken gefolgt. Ich mißtraue Gesangstheater (wurscht ob Oper, Operette, Musical) grundsätzlich (warum sollte man das Offensichtliche “Ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe…” noch minutenlang besingen?), gebe mir (und der Gattung) aber immer mal wieder eine neuen Versuch. Beim San Franziskaner Tales of the City-Musical ist das Libretto vom Autoren von AvenueQ (http://bit.ly/HsAm) und die Musik von den Scissor Sisters, damit, sollte man meinen, ist die Gefahr gebannt, die Ohren mit bombastischen Andrew Lloyd Webber-Katzenphantomen zugekleistert zu bekommen.

Gameday, Zug voller Fans, dafür verspätet und nur noch Stehplätze – das geht ja gut los. Gings auch. Nachdem sich unsere Wege am Bahnhof trennten. Die Fans nach rechts, Sabine nach links, zum Bus. Ich bin an der Market Street ausgestiegen und so richtig mit Freude mal wieder durch San Francisco gebummelt. Ist schon schön hier, wenn die Sonne scheint und der Wind die (schon für den Gay Pride Ende Juni gehißten) Regenbogenfahnen wehen läßt.

Nicht mehr trödeln, in 20 Minuten gehts los. In der Halle steht eine ältere fette Tucke im Frack und verteilt Autogramme. Armistead Maupin ist selbst gekommen um “Les Misérables in scale, but with polyarmory, drugs, joy, and death. Faggots, Lesbians, straight boys, straigth boys, transgendered heroines, and innocent girls straight off the bus from Ohio” zu sehen.

Tanzende Hare Krishnas in Leuchtorange, Hippies in Flatterbunt, gefallene Unschuld (1. Lektion: ein One Night Stand ist kein Eheversprechen), nackte (!) Brüste (!) auf der Bühne (!), wohlgefüllte Suspensorien (Hasenpfote UND Socken) – ein “Summer-of-69”-Reigen untermalt von Musik in der die 70er anklangen. Es hat mir sehr gefallen, dass der Schwerpunkt weniger auf Michael Tollivers (Maupins Alter Ego) Geschichte als vielmehr auf der Anna Madrigals (“transgender heroine”) lag – die kam mir in den Büchern immer zu kurz. AIDS war kein Thema, obwohl Armistead Maupin einer der ersten offen schwulen Autoren war und sich der AIDS-Aufklärung verschrieben hat. Warum man aber alles besingen und betanzen muss, wird mir ein Rätsel bleiben. Diese Kunstform ist einfach nicht meine. Meine Sitznachbarin (“born and raised in the Tenderloin”) meinte, dass zuviel Lokalkolorit eingeflossen sei und man außerhalb San Franciscos doch gar nichts wisse, von den Hippies und den Schwulen. “It won’t go national…” Es ist mir gelungen, die Befürchtung als unbegründet zurückweisen. (“Wissen Sie, ich komme aus einer kleinen Stadt in Deutschland und konnte “be sure to wear some flowers in your hair” schon mit 14 und voll Inbrunst hinten im Schulbus mitsingen.”)

Notiz am Rande: mit diesem Disclaimer warnt das Theater vor Freizügigkeit, dabei ist auf jeder Street Fair mehr geboten: Please be advised: This production contains brief nudity, drug use, adult situations, and disco lights. Parental guidance is suggested.

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