Im Zuge meiner samstäglichen “errands” (Erledigungen, Besorgungen) war ich gestern schnell bei Lien im Beauty Salon oben am Camino, auf dass sie mir die Brauen zupfe. Kaum öffne ich die Tür, schallt ein Jubelschrei durch den Raum (der pedikürenden Kollegin ist dabei vor Schreck das Pinselchen entglitten und die Kundin hatte einen netten violetten Nagellackkringel auf dem Großen Zeh). Da sei ich ja endlich, sie habe die ganze Nacht gebetet, dass ich heute komme. (Ich war, glaube ich, noch nie die Antwort auf irgendjemandes Gebet und offen gestanden ein wenig verwirrt.)
Was? Wer? Wie? Ja, diese Woche sei doch der Todestag ihres Mannes. “Langsam, Lien. Was hat das mit mir zu tun?” (Beiseit: “Ich war’s nicht. Ehrlich.”) Morgen treffen sich Familie und engste Freunde bei ihr zu Hause für eine Gedenkfeier. Um 4:00pm. Alle. Und ich auch. Ich hätte doch nicht etwa etwas anderes vor? Nein, habe ich nicht. Ich fühle mich geehrt und komme gerne. Vielen Dank für die Einladung. Soweit. So spontan. Danach habe ich räsonniert, ob ich da wirklich hin soll. Oder ob das so eine amerikanische Einladung ist, und es zu einem sehr sehr “awkward moment” führt, wenn man dann wirklich vor der Tür steht. Andererseits: sie ist Vietnamesin und mag mich wirklich – schlimmstenfalls fahre ich einfach wieder heim.
Also habe ich heute früh einen Newton-Kuchen gebacken (mit “gravity apples” – selbst erfunden. Klingt doch viel hübscher als Fallobst…) und mich nachmittags auf den Weg nach Newark gemacht, über die Dumbarton Bridge, durch eine herrliche Marschlandschaft. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber anscheinend nicht diesen gepflegten Suburbia-Boulevard, der Mittelstreifen bewachsen von riesigen alten Zedern und zapfenübersät. Geräumige Ein- und Zweifamilienhäuser (aus Stein!, nicht wie meine Holzbruchbude), blühende große Magnolienbäume in den Vorgärten, in jeder Einfahrt mindestens drei Autos. Hmm. Überraschend.
Ich war am richtigen Haus, es war schon laut und voll (“Vietnamese Style: always loud and crowded”) und ich wurde vorgestellt, dem Sohn, der Schwiegertochter, den Töchtern, Kusine A, B und C – dann habe ich kapituliert und mußte zugeben, dass ich mir die Namen nicht alle auf einmal merken kann. “Macht nix, nenn’ uns einfach alle Kusine. Außer den älteren Damen, die nennst du Tante.” Gut, das kann ich. Liens Mutter war ein Sonderfall, eine ganz reizende alte Dame, sehr elegant und des Englischen nicht mächtig, aber zusammengelegten Händen und einem Beugen des Kopfes zugänglich. Sie saß den ganzen Abend schnatternd mit einer Runde gleichaltriger Damen zusammen, ein Bild wie auf einem Markt in Saigon.
Jeder hatte Unmengen zu essen mitgebracht, Lien hat tagelang gekocht, in Bananenblätter gerollt, gehackt, gestampft, gewickelt, geschnipselt, mariniert, ihre Mutter ein Sticky-Rice-Dessert beigesteuert, dessen Zubereitungszeit alleine 3 Tage beträgt (jede einzelne Minute davon wert).
Als es ans Teller volladen ging, bekam ich von Lien und Kusine Nancy jedes Gericht erklärt und die Zutaten aufgelistet, und meistens, um die Sache abzukürzen, kurzerhand einen Happen in den Mund gesteckt. “You like?” “Mmmphpf, yeah…” – und wieder eine Schaufel voll drauf. Obwohl so viele Menschen da waren, war immer ganz zufällig die Person, die das, worauf ich gerade kaute, zubereitet hatte, in meiner Nähe, um einen Kommentar abzuholen. “You like?” “Mmmphpf, yeah…” “Want more?” “Mmmphpf, gimme a break…” Auf dem Photo sieht man nur eine kleine Auswahl der Vorspeisen und Salate, auf dem Herd simmerten mehrere Töpfe mit warmen Gerichten, und die Dessert Auswahl war ebenso reichhaltig. Allein von diesen Kuchen gab es fünf, dazu (ca. 60!) Windbeutel (“Puff Cakes”) mit Früchten und Sahne gefüllt (“My speciality, Mascarpone Cheese and Heavy Whipped Cream. No carb.” “No, just fat…” “Yeah, but healthy: no carb.” Dazu muss man wissen, dass “carbs”, also Kohlenhydrate, in USA des Teufels sind. Ob das aber eine dreizentimeterdicke Sahneschicht aus nur Fett wirklich zu gesunder Ernährung macht?), Berge von Jell-Os, traditionelle Sticky-Rice und Bohnensüßspeisen, kleine Kuchen und Petit Fours, und cookies für die Kinder. Nancy (die irgendwie zu meiner persönlichen Betreuungskusine geworden war) hat’s mir erklärt: man esse jetzt, dann mache man ein bißchen Pause, hole sich vielleicht was Süßes und dann esse man in einer Stunde wieder. So drei bis vier Runden pro Person seien üblich. Anschließend werden die Reste verteilt, entsprechende Behälter seien in einer Kiste in der Garage vorbereitet.
Es war klasse! Davon abgesehen, dass ich schon lange nicht mehr so viel so gut gegessen habe, wollte sich jeder gerne mit mir unterhalten. Und wieder habe ich Einblick in eine vollkommen neue Welt geschenkt bekommen. Manche sind vollkommen assimiliert, andere haben das beste aus beiden Kulturen für sich adaptiert, manche von den Alten sind noch nicht angekommen und haben es auch nicht vor. Die Generation nach Lien ist entweder als Kleinkind eingewandert worden oder schon hier geboren, deren Kinder haben amerikanische Vornamen. Unbenommen davon heißt eine Reise nach Vietnam “travel back”. Ganz seltsam für mich war, als ich mit Kusine Nancys Hilfe (sie kam mit 13 in die USA und kann sich an ihr Leben in Vietnam noch sehr gut erinnern), einer in USA geborenen ca. Dreißigjährigen das Massaker von My Lai erklärt habe. Davon habe sie in ihrer amerikanischen Schule nie gehört…
Lien hat mich erst mit einem riesigen Care Paket gehen lassen. Mein Beitrag zur Konversation bestand in den letzten 5 Minuten nur noch aus “Thank you, stop – stop – stop, enough, stop-stop-stop.” Für die Abendmahlzeiten morgen und übermorgen ist gesorgt. cảm ơn!
Schon witzig, dass mich zur Zeit Familien zu adoptieren scheinen.
(Unten: Lien und ihre “große” Enkelin.)