Gelesen: Christa Wolf – “Kassandra”

Ich hätte zur Vor- oder Nachbereitung der Lektüre Christa Wolfs Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1982 lesen können. Oder bändeweise Sekundärliteratur und Interpretationen zur Auslegung der Erzählung als Parabel auf den Kalten Krieg, das Diktat der SED in der DDR, das böse Patriarchat, als Zeit- und Gesellschaftskritik. Hätte ich. Habe ich aber nicht. Steht gewiß alles drin. Aber muss man denn alles zu Tode analysieren?

Stattdessen habe ich einen gewaltigen Gesang einer Frau kurz vor ihrer Hinrichtung gelesen. Einer Frau, der ein Gott die Gabe verleiht, die Zukunft vorherzusehen, aber, weil sie ihn als Liebhaber abweist, gleich noch den Fluch nachschießt (indem er ihr in den Mund spuckt), dass ihr nie jemand glauben wird. Einer Frau, die als Königstochter vom Privileg kommt und deswegen zu lang für zu vieles blind bleibt und um so mehr leidet (und dem Wahnsinn verfällt), wenn sie endlich die Augen öffnet und versteht. Einer Frau, die in ihrem kurzen Leben alles erlebt und erleidet, was eine Frau erleben und erleiden kann. Ein Leben, zusammengefaßt in diesem Zitat, das sich Christa Wolf als Inschrift auf ihren Grabstein hat meißeln lassen: “Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres hab ich nicht gewollt.”

Ein großes starkes (und anstrengendes) Buch, das in mir noch lange nachklingen wird. Ich wünschte mir, dass es mir jemand mit einer gut geschulten Stimme vorträgt. Schnell nachgeschaut: Corinna Harfouch hat dem Vernehmen nach ein Hörbuch eingelesen. Das könnte passen. Vielleicht mal später, an langen Winterabenden…

Wer Zeit und Mut hat, möge lesen.

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