Gelesen: Rebecca West – “Gewächshaus mit Alpenveilchen”

Im Sommer hatte ich Uwe Neumahrs Einlassung zu den Berichterstattern und -innen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gelesen (s. https://flockblog.de/?p=48524) und im Quellenverzeichnis (ja, ich lese sowas) den eigentümlich faszinierenden Titel der Eindrücke Rebecca Wests entdeckt und das Buch, weil nur noch antiquarisch erhältlich, seitdem gejagt. Neulich konnte ich die Erstausgabe der Edition Tiamat von 1995 (!) in der Übersetzung von Elke und Gundolf Freyermuth auftreiben und heute endlich lesen.

Rebecca West war ihrer Zeit sicher immer voraus und hatte eine sehr eigenen von deren Billen und Unbillen geprägten Blick auf die Dinge. So läßt sie sich zum Beispiel auf den letzten Seiten des Buches ausführlich über Hinrichtungsmethoden aus und warum der vom Tribunal der Siegermächte gewählte Strang für die Vollstreckung der Todesurteile eine humanere Lösung ist, als die Axt, die das deutsche Strafrecht vorgesehen hätte.

Das Buch ist weniger Berichterstattung als ein Meinungsstück und eine sehr literarische Beschreibung des Nachkriegsdeutschlands des Jahres 1946, der wenigen Deutschen, mit denen sie in Kontakt kommt und den sehr unterschiedlichen Vertretern der Allierten, Justizangestellte, Richter, Presse, Prominenz. Sie bleibt für die gesamte fast einjährige Dauer des Prozesses in Nürnberg, beschreibt die Atmosphäre lähmender Langeweile, die sich über all diese Menschen zu legen beginnt, die doch eigentlich nach getanem Krieg endlich nur nach Hause wollen, beginnt eine Affäre mit einem der Richter, kommt mit anderen Reportern rum und traut sich was (man denke Lee Miller und Badewanne). Nur manchmal geht es mit ihr durch, dann opfert sie die überparteiische Sachlichkeit ihrer Erzählung auf dem Altar des Boulevard (wenn sie Göring in ein paar schnellen bösen Strichen als “Puffmutter” zeichnet oder Schirach als “mäuschenhafte Gouvernante”). Insgesamt aber ist dieses Buch ein extrem lesenswertes Zeitzeugnis. Und ja, es kommen Alpenveilchen vor.

Die Übersetzung ist von zwei Literaturwissenschaftlern, die sich dankenswerterweise auch mit den Anmerkungen besonders Mühe gegeben haben – mein Exemplar kann ausgeliehen werden.

Add a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *

two × five =