Die Taschenbuchausgabe erreichte mich, lang schon vorbestellt und heiß erwartet, kurz vor dem Jahreswechsel und seitdem habe ich, wenn ich nicht gerade durch Gespräche mit lebenden Menschen oder um Aufmerksamkeit heischende Katzen abgelenkt war, gelesen. Fast jeden Tag bin ich nach einem kurzen Abstecher im Bad morgens wieder ins nachtwarme Bett zurückgekrochen, die Hand mit dem dicken Buch über der Decke, alles andere gut eingepackt, und habe mich noch ein paar Stunden in Franzens Illinois der frühen Siebziger Jahre festgelesen.
Am Dreikönigsmorgen war ich durch und jetzt wäre es an der Zeit, eine Meinung zu haben. Genau. Damit tue ich mich aber schwer. Deshalb kommt die Rezension auch erst vergleichsweise spät.
“Crossroads” ist ein Franzen und damit sprachlich von allerhöchster Qualität. Wie man das vom Meister des amerikanischen Romans erwartet. Ja. Aber. Aber das Thema. Religion, Religiosität, Spiritualität, Frömmlerei, Sektierertum. Scheinheiligkeit. Und Glauben.
Um es mit den Worten des damaligen Kardinals Ratzinger in seiner Begründung für seine Ablehnung der Beschlüsse des 2. Vatikanischen Konzils auszudrücken, die unter anderem besagen, dass die Messe in der Landessprache und nicht mehr auf Latein gefeiert wird: “Verständnis führt zu Analyse. Analyse führt zu Zweifel.”
Eben.
Wir lernen die Pfarrersfamilie Hildebrandt im Dezember 1971 kennen. Vater, Mutter, vier Kinder, kaltes Pfarrhaus, wenig Kohle, viel zu tun und – bis auf den jüngsten Sohn – jeder und jede auf seinen eigenen Wegen und Abwegen. Mutter Marion ist bei weitem die interessanteste Figur, am besten ausgearbeitet, mit einer komplizierten Biographie; Vater Russ ist zunächst ein gelangweilter Ehemann auf Abwegen und bekommt erst später in einer Rückblende mehr Kontur, wenn wir ihn dabei begleiten, wie er zwar seine Religion verliert, aber dafür zu glauben lernt. Der ältere Sohn Clem hat Älterer-Sohn-Probleme, zum ersten Mal weg von zu Hause an der Uni, zum ersten Mal wirklich konfrontiert mit Leben, Liebe, Sex und außerdem sterben immer noch täglich gleichaltrige junge Männer in Vietnam – ja, schon, dennoch, mich hat er ziemlich kalt gelassen. Seine Schwester Becky (eine Karen-Vorläuferin der Siebziger) erst recht: soll sie nun oder nicht? Küssen? Oder doch nicht? Darüber vergehen qualvoll viele Seiten. Dann passiert “es”. Der Kuß. Huiuiui! Dann lang nichts. Dann die Frage, wie und ob sie ihre Jungfräulichkeit “verschenken” soll. Auch wieder viele Seiten. Ich will ja gar nicht bezweifeln, dass es solche Geschöpfe gegeben hat (und immer noch gibt), aber sie nimmt so viel Raum ein in diesem Werk und sie interessiert mich einfach nicht. Zum Glück gibt es noch Perry, den Drittältesten. Ihm, dem hochbegabten und furchtbar gestörten Kind, gibt Franzen viel Raum – und läßt ihn dann, wie Thomas Mann seinen Hanno in den Buddenbrooks, elend abstürzen. Groß-ar-tig! Diese Figur? Ja. Uneingeschränkt ja. Der jüngste ist nur Staffage. Wie eigentlich fast alle Nebenfiguren. Stichwortgeber. Typen.
“Crossroads” soll der erste Band einer Trilogie sein. Dann schau ma moi.
Trotz allem, es ist immer besser, den jeweils neuen Franzen zu lesen, als ihn nicht zu lesen.