Gelesen: Gabriele Tergit – “Käsebier erobert den Kurfüstendamm”

Mit ihren Effingers hat Tergit mein Herz erobert (s. https://flockblog.de/?p=45397), mit dem Käsebier ist es ähnlich. Natürlich hat die auf dem Klappentext zitierte Kritik aus der NZZ recht, dass “dieser rasante Roman es mit den Büchern von Hans Fallada und Erich Kästner aufnehmen” kann. Will und muss er aber gar nicht.

Tergit schreibt zur selben Zeit wie die zitierten Herren (ausgehende Zwanziger Jahre) über denselben Ort (Berlin) und dies sowohl aus weiblich/feministischer als auch aus einer sehr fachkundigen Perspektive als Zeitungsjournalistin. Ich habe noch nie zuvor eine so schöne Beschreibung darüber gelesen, wie eine Zeitung in der Setzerei im wahrsten Sinne des Wortes “gemacht” wird und auch dem Redakteur, der die Artikel seiner Mitarbeiter mit dem Rotstift “aus der Wirrnis des Dunkelgefühlten in die Klarheit einer lichtvollen Prosa” übersetzt, hat sie ein treffliches Denkmal gesetzt.

Tergits ganz besondere Stärke sind Dialoge und atmosphärische Beschreibungen. Man hetzt mit ihr durch “die sieben fetten Jahre im Leben einer ganzen Generation” (gemeint sind die Jahre 1926 bis 1933) durch eine Stadt im Nachkriegs-Bauboom zwischen Vergnügungssucht (ja, ja, Babylon) und zunehmender Verelendung, Nachkriegsgewinnlerei und Weltfinanzkrise, Völlerei und Hunger, sich vertiefenden Gräben an den politischen Rändern, Straßenschlachten inklusive, Wertewandeln und Wendehälsen, einem schwachen Staat und Politikverdrossenheit, Anfängen eines Sozialstaats und brutalen lichtlosen Hinterhöfen, Bankrotte, Zwangsversteigerungen und Schnäppchenjäger, frauenbewegten Frauen, die sich endlich Zugang zu Bildung und Studium verschafft haben, sich nichtsdestotrotz nicht aus dem Korsett gesellschaftlicher Dogmata befreien können und zusehen müssen, wie das hedonistische bildungsferne “Girl” (wie in “Girls just wanna have fun” sowie einen guten Abtreibungsarzt) zum Idol ihrer Zeit wird.

Der titelgebende Käsebier übrigens ist ein Vorstadtvarietékomiker aus der Hasenheide, der “von den Medien” hochgehyped und dann fallengelassen wird. Ganz, ganz herrlich (die Dialoge nach der Premiere, hach!) und kein Stück anders als heute.

Wer viel über die Essenskultur in guten Häusern und die Mindestausstattung an Tischtüchern und Servietten, Deko, Besteck, Gläsern und Geschirr (silberne Grätenkörbchen zum Anklippen an den Teller) lernen, nebenher sein zeitgeschichtliches Wissen über die Weimarer Republik erweitern und dabei gut unterhalten sein will, lese den Käsebier. Unbedingt.

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