Vorrede: Die Wohnanstalt ist ein Abbild der alternden Gesellschaft und wenn jung, dann zieht man mit einem Braten in der Röhre oder vor noch nicht allzulanger Zeit geschlüpftem Kleinkind zu. (s. –> Spielplatz). Fast keiner hier hat Sommerferien und darum bleiben wir alle mindestes im August brav daheim.
Eine verblüffende Erkenntnis dieses heißen Supersommers auf Balkonien ist zweifellos, wieviele Menschen sich als Anhänger eines Freikörperkultes outen. Häusliche Tätigkeiten wie Wäsche aufhängen, Blumen gießen, kleine Reparaturarbeiten, aber auch häusliche Untätigkeiten wie ein Weinchen oder Bierchen trinken, Schwätzchen halten (tut mir leid, geht in diesem Kontext nur im Diminutiv. Klischee, aber was will man machen). Alles nackig und freischwingend. Alles? Nein, beim Grillen wird ein neckisches Schürzlein vorgebunden. Macht ja nichts, man muß ja nicht hinschauen, wenn es einen stört (oder, wie in meinem Fall, einfach nur die Brille abnehmen).
Akustik zu vermeiden ist schwerer, obwohl ich bei der Evolution schon lange und oft genug Ohrenklappen bestellt hätte. Und darum war der Sommer in der Anstalt vor allem eines, nämlich laut. Die Insassen hatten ihr Leben und ihre Gäste aus geschlossenen Räumen in die Semiprivatheit ihrer Balkone verlegt und es ist ihnen entweder nicht bewußt oder es schert sie nicht, dass jetzt alle Nachbarn wissen, dass bei Horst und Moni eine Trennung ins Haus steht (seit nun auch der Jüngste mit der Schule fertig ist) und die Eltern von oben sich einen Ast freuen, dass sich ihr Abiturientenkind für ein Jahr (ein ganzes Jahr, juhu!) “Wörgltreffl” in Neuseeeland entschieden hat. Das ist aber noch gar nichts gegen die alten Weiber. Ich sage das in aller Hochachtung: die haben eine langlebenslange Erfahrung im “Leit ausrichten” und demonstrieren diese Perfektion jeden Donnerstag beim Kaffee bei der Gerlinde. Wenns meine Zeit erlaubte (also fast immer), saß ich um 15:00 Uhr auf meinem Balkon, mit einem ungelesenen Alibibuch in der Hand und habe das Hörspiel genossen. Meist in perfekter Klangqualität, weil die Ohren der Damen nicht mehr das sind, was sie in jungen Jahren mal waren, und höchsten gestört von gelegentlichem Mamamamamamamamamama.
Und nun kommen wir zum oben schon angesprochenen Spielplatz. Entweder sind die Eltern taub und das Kind brüllt aus reiner Notwehr wg. Hunger, Durscht oder Heimweh so lange nach Mamamamamamamamamama, bis endlich irgendwer auf es aufmerksam wird oder die zur Erziehung Berechtigten, sich aber dazu nicht verpflichtet fühlenden, fördern die Stimmentwicklung schon in seinen sehr jungen Jahren, weil sie das Balg frühzeitig auf einen Schreiberuf (Oper, Baustelle oder dergleichen) vorbereiten. Man weiß es nicht, es nervt aber.
Das nächstschlimmere Geräusch nach “Bobbycar-auf-Kopfsteinpflaster” ist “Batteriebetriebenes-Fahrzeug-mit-navigationsunfähigem-Kleinkind-am-Steuer”. Das bleibt nämlich nach kurzer Flüsterfahrt voraus (ist mehr so ein Theaterflüstern, aber auszuhalten) immer irgendwo stecken, dann heult es beim vergeblichen Versuch, vorwärts rangiert zu werden, schwer auf, dem will das Kind nicht nachstehen und heult lauter und dann hängt es vom Tempo der herbeieilenden Aufsichtsperson am Spielplatz ab, bis wieder das Vorwärtsflüstern zu hören ist. Sollte es sich hierbei um den halbstarken großen Bruder handeln, kann das dauern. Der hat, weiß Gott, anderes zu tun. Dies beinhaltet immer (IMMER!) ein Mobiltelefon. In Einzelfällen auch eine zu beeindruckende Gleichaltrige. Mobiltelefon dauert länger.
Das Ende der Hitzeperiode hat die Nackten wieder in ihre Wohnungen zurückgescheucht, die Grills sind weggepackt, Gerlinde fliegt nächste Woche nach Malle. Nur das furchtbar laute Kind brüllt weiter seinen erweiterten Wortschatz in den schallsteigernden Innenhof. Mamamamamamamamamama. Hallohallohallohallohallohallo. Mamamamamamamamamama. Hallohallohallohallohallohallo. ad inf. Der Bruder hat scheint’s ein neues Handy.
Mich tröstet, dass ich bald wegfliege und wenn in Andalusien alles so ist, wie es mal war, dann schreit dort nur der Pfau.
Neu ist das alles übrigens nicht. Siehe nachfolgendes Gedicht von Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky aus dem Jahre 1927:
Das Ideal
Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:
Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve –
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.
Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad – alles lenkste
natürlich selber – das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.
Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen –
alte Weine aus schönem Pokal –
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.
Ja, das möchste!
Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.
Etwas ist immer.
Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.